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Fußball-Fieber in der guten Stube?

Früher wurden WM- und EM-Turniere oft zu Familienfesten! Es war einmal. Gerade ältere Fußball-Fans verfolgen in diesen Wochen die Europameisterschaft im eigenen Lande mit eher gedämpften Gefühlen. Dabei sind es gar nicht einmal die sportlichen Zweifel, die am Abschneiden der von Bundestrainer Julian Nagelsmann betreuten Elf überwiegen: Es ist schon seit mehreren Jahren das Fieber, das früher in der Bevölkerung um sich griff, was fehlt. Gerade im Familienkreis waren Fußball-Abende oder gar Grill-Feste der Regelfall. War in memorian der WM 1954 und 1974 oder des Sommermärchens 2006 alles besser – oder nur anders? Oder können die Kicker aus Germania auch in diesen Wochen das Fußball-Feuer entfachen? Das SeMa hat sich umgehört.

Heutzutage ist die Stimmung in den Stadien wesentlich hitziger. Fangesänge, Rauchbomben, Pyrotechnik und Choreografien beherrschen das Bild.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Inhaber des Zeitungskiosks in Hamburg-Tonndorf zuckt leicht mit den Schultern. Noch gut eine Woche, dann wird das erste Spiel der Fußball-Europameisterschaft angepfiffen, der Stapel mit den EM-Sonderheften vor ihm ist noch unerwartet hoch. „Hier ist noch gar nichts von Vorfreude oder Erwartungshaltung zu spüren, nicht einmal geredet wird über Fußball“, sagt der Mann hinter dem Verkauftstresen. „Das war doch damals ganz anders, zum Beispiel beim Sommermärchen 2006“, sagt er zurückblickend. Da sei richtig etwas los gewesen – nicht nur geschäftlich. „Die Einstellung ist eine andere geworden, der Funke springe nicht oder nur langsam über.“ Der HSV hat Pause, St. Pauli hat Pause, und die Nationalelf interessiere – zumindest war es so kurz vor dem Turnier – kaum jemanden. Ob sich das noch ändert? Die Mannschaft muss es richten, mit den Auftritten in der EM-Vorrunde ist zumindest ein Anfang gemacht.

Glanz kommt in den Augen von „Fußball-Senioren“ auf, wenn die Erinnerungen an vergangene Zeiten geweckt werden – dann aber ist das schwarz-rot-goldene Eis recht schnell gebrochen.

WM-Finale und Umfeld 1954 in Bern.

Gerade diejenigen, die sich sogar an das „Wunder von Bern“ 1954 erinnern können, schildern die Fan-Erlebnisse, als wenn sie gestern gewesen wären. „Wir saßen am Finaltag 1954 gemein- sam stolz an unserem ersten Fernseher überhaupt und fieberten mit“, schildert die Hamburger Seniorin Waltraut Beversdorf (86). „Ich war neben meiner Mutter, wir ertrugen gemeinsam die Spannung“, weiß ihr Ausflugs-Kamerad Horst auch noch genau. Der 87-jährige Mann aus Hamburg-Niendorf sieht die damaligen Fußball-Helden Fritz Walter, Toni Turek, Horst Eckel und auf der damals noch schwarz-weißen Mattscheibe wie vor sich, sagt er zumindest. Das wären noch Fußballer gewesen, mit denen man sich hätte identifizieren können, lobt er vergangene Zeiten. Damals hätte man Hand in Hand geradezu gezittert, das große Fußball-Feuer sei bei ihm allerdings längst erloschen.

Das geht nicht allen „Fußball-Oldies“ so, sie verfolgen die EM mit ungebrochenem Enthusiasmus. Inge Kluth (90) zum Beispiel zeigt auch bei der Beobachtung des Geschehens anno 2024 Sachverstand: „Ich liebe den Fußball von Bayer Leverkusen, sitze, so oft es geht, vor dem Fernseher“, sagt die Hanseatin. Das Fußball-Interesse sei bei ihr „erst“ 1958 (WM in Schweden) geweckt worden – natürlich durch ihren späteren Mann, der geradezu fußballverrückt gewesen sei. Fernseher allerdings hätten zu diesen Zeiten die wenigsten besessen. Aber es gab andere Möglichkeiten, und die hätten die Menschen sogar auf den Straßen und vor Schaufenstern (wo TV-Übertragungen liefen) zusammengeführt. Das Ganze sei eine sehr schöne Ablenkung in Nachkriegs-Deutschland gewesen. Man sei geradezu zusammengeschweißt gewesen. Auch in diesen Tagen fiebert sie am TV wieder mit.

WM-Finale und Umfeld 1954 in Bern.

Stichwort Ablenkungen und Alternativen. Sie könnten heutzutage hauptverantwortlich dafür sein, dass ein solcher Zusammenhalt zwischen Menschen bei diesen Turnieren nicht mehr in so hohem Maße besteht. In Zeiten von Smartphones, Internet, Chats, Fitness-Clubs und Privat-TV-Sendern scheinen der persönliche Kontakt, das gemeinsame Erleben dieser Turniere auch mit der Familie eben nicht mehr an erster Stelle zu stehen. Wer kenne heute noch die Namen der Spieler, wer wisse noch genau, wie sie aussehen, geben Fußball-Senioren, die es immer noch zu Hauf gibt, zu bedenken. So nörgeln Tausende von „Nationaltrainern“ in ihren Fensehsesseln eben allein vor sich hin. Na ja, vielleicht führen weitere EM-Erfolge auf dem grünen Rasen dazu, dass man doch noch einmal zum Feiern vor die Tür geht.

Und da gibt es dann doch noch genug, um in Stimmung zu kommen. Kneipen, Bistros und vor allen Dingen Public-Viewing-Bereiche warten auf die Fans. Und wer weiß, vielleicht erleben sie ja am Ende tatsächlich noch ein Sommermärchen à la 2006. Es ist an der Mannschaft, mit Leistungen eine neue Euphorie auch in den Wohnstuben zu erwecken oder zu fördern. Es scheint ihr zu gelingen, die Hoffnung auf Familienfeiern  steigt.    

WM-Finale und Umfeld 1954 in Bern.

Zwischen Hoffnung, Helden und Hooligans
WM 1954 bis EM 2024: Turniere im Wandel der Zeiten

• 1950: Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wird auch der DFB am 21. Januar 1950 wiedergegründet. Zur selben Zeit entstand in der Deutschen Demokratischen Republik der Deutsche Fußball-Verband (DFV).
• 1954 Als das Wunder von Bern wird der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz durch die nach dem Ausschluss im November 1945 wieder startberechtigte bundesdeutsche Fußballnationalmannschaft gegen die favorisierte Nationalmannschaft Ungarns bezeichnet. Das Endspiel findet am 4. Juli 1954 statt. Der 3:2-Sieg (nach 0:2 Rückstand) für die Bundesrepublik Deutschland zählt zu den besonderen Ereignissen der WM-Geschichte. Die Spieler um Kapitän Fritz Walter und Bundestrainer Sepp Herberger gehen als „Helden von Bern“ in die deutsche Sportgeschichte ein. Der Titelgewinn löst in ganz Deutschland einen Freudentaumel aus, der sich insbesondere während der Rückkehr der Weltmeistermannschaft widerspiegelt. Neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt sich ein neues Selbstwertgefühl der Deutschen.
• 1972: Europameister wird die Bundesrepublik Deutschland im Finale in Brüssel gegen die Sowjetunion. Torschützenkönig wird Gerd Müller, dem es als einzigem Spieler in der Endrunde gelingt, mehr als ein Tor zu schießen, mit vier Toren.
• 1974: Die Bundesrepublik Deutschland gewinnt das WM-Turnier mit einem 2:1-Sieg über die im Finale von München über die Niederlande und wird damit zum zweiten Mal, nach 1954, Fußballweltmeister – als erster Weltmeister, der auch aktueller Europameister war, welches erst die spanische Fußballnationalmannschaft 2010 wiederholen kann.
• 1998: 21. Juni 1998/WM Frankreich – der Polizist Daniel Nivel wird bei der WM in Frankreich in Lens von deutschen Hooligans schwer verletzt.
• 2006: Der Sommer des Jahres 2006, in dem die Fußball-Weltmeisterschaft stattfand, ist eine sehr besondere Zeit. Die Stimmung um die Elf von Trainer Jürgen Klinsmann geht durch die gesamte Bevölkerung, der Begriff Sommermärchen entsteht. Die deutsche Elf wird Dritter, Weltmeister wird Italien.
• 2014: 2014 wurde Deutschland zum vierten Mal Weltmeister, es besiegte im Endspiel Argentinien.

• Zur Geschichte der Deutschen Fußball-Nationamannschaft siehe im Internet: https://www.retrofootball.de/retroblog/Geschichte-der-deutschen-Nationalmannschaft-und-ihrer-Trikots/

WM-Finale und Umfeld 1954 in Bern.

„Das Kino-Programm wurde unterbrochen“

Hans-Jürgen Graf (86): „Ich hatte zum Zeitpunkt des Endspiels 1954 kein großes Interessen am Fußball und war ins Kino in Groß Flottbek gegangen. Dort wurde das Kino-Programm extra unterbrochen, weil Deutschland Weltmeister geworden war. Fernsehen war ja noch nicht.“
Inge Kluth (90): „Ich war damals 20 Jahre alt und lernte meinen Mann kennen. Darum gibt es Erinnerungen erst ab der Welt- meisterschaft 1958, er führte mich sozusagen in den Fußball ein. Wir saßen in der kleinen Küche vor dem Radio, vier Männer und ich bei Schnaps und Bier.“
Klaus Wolfgram (75): „Natürlich gucke ich EM im Fernsehen. Aber mich hat von jeher der Verein – eben mein HSV – mehr begeistert als Länderspiele. Da sind die Identifkation und die Erinnerungen wesentlich größer.“

 

Klaus Karkmann © SeMa

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