Wenn Angehörige pflegen
Bei der Pflege von Älteren, aber auch Jüngeren ist es wie bei einem Eisberg: Der größte Teil ist kaum sichtbar, weil sie von Angehörigen geleistet wird: kein einfacher „Job“, wenn er denn überhaupt so angesehen und honoriert würde. Welche Hilfen gibt es? Offiziell zählt die Pflegestatistik Hamburg 2019, herausgegeben im Juni 2021, 77.325 Pflegebedürftige, die ambulant, teilstationär oder stationär versorgt werden und Geld – sowie Sachleistungen der Pflegekassen erhalten. Das Pflegepersonal zählt 26.498 Köpfe. Von Angehörigen ist in der Statistik und anderswo keine Rede. Für den Sozialverband VdK ist das Grund genug, bundesweit zu fragen: „Pflegende Angehörige sind am Ende ihrer Kräfte – wer hört sie?“ Mathias Mollenhauer, Landesgeschäftsführer Sozialverband VdK Hamburg, übersetzt diese Warnung auf die Hansestadt: Von den etwa 80.000 Hamburgern, die Pflege brauchen, ist jeder fünfte in einem Pflegeheim, bei einem knappen Drittel wird die häusliche Pflege ergänzt durch ambulante Dienste, und bei etwa der Hälfte ruht die Betreuung ganz allein auf den Schultern der Familie, der Freunde. „Sie können nicht auf die Straße gehen, sie müssen da sein und sind Kümmerer, Tag und Nacht“, sagt Mollenhauer. Es geht ihm nicht darum, Pflegeprofis gegen pflegende Angehörige auszuspielen. „Aber die, die sich um Eltern oder Partner kümmern, haben keine Lobby. Die Politik beklagt den Notstand, aber viel getan hat sie nicht.“ Dabei ist die Not in der VdK-Studie vom Juni 2022, „Häusliche Pflege am Limit“, belegt: Demnach sind 72 Prozent der pflegenden Angehörige. Die Hälfte der Befragten versorgt ein Elternteil. Jeder Zweite der Pflegenden ist bereits im Rentenalter und körperlich selbst nicht mehr fit: 63 Prozent haben täglich körperliche Beschwerden und 59 Prozent geben an, wegen der Pflege die eigene Gesundheit zu vernachlässigen.
Pflege still und leise
Mollenhauer versteht sich als „Fürsprecher derer, denen Anerkennung und viel folgenreicher, eine ausreichende finanzielle Absicherung und Honorierung versagt bleibt. Kaum jemand in der Politik hört ihnen zu; ihre Stimmen sind nicht laut genug. Sie leiden still in ihren vier Wänden. Wer vor einem Pflegeheim steht, weiß sofort: Hier wohnen Menschen in Pflege. Wer an einem Bungalow in Sasel oder einem Mehrfamilienhaus in Wandsbek vorbeigeht, erkennt nicht, ob hinter den Türen ein demenzkranker Partner versorgt wird oder die Tochter der Mutter das Essen reicht.“ Jeder dritte pflegebedürftige Hamburger kann wegen Demenz seinen Alltag nicht mehr komplett bewerkstelligen. Tendenz steigend, da immer mehr Hamburger sehr alt werden.
Die Pflege selbst sollte überdies besser abgefedert sein: „Das Pflegegeld, so Mollenhauer, „wird dringend gebraucht, ist aber zu gering.“ Was Angehörige noch brauchen, ist eine Beratung, um nicht nur sachkundig zu helfen, sondern auch um selbst über die Runden zu kommen und eventuell physische und psychische Belastungen ausgleichen zu können. Mollenhauer lobt hier Hamburg: „Die Pflegestützpunkte der Hansestadt sind gut.“ Sie beraten rund um das Thema Pflege, zu Finanzierung, Anträgen oder bei der Suche nach einem Heimplatz. Alles (kassen-)neutral, kostenfrei, nach Bedarf zu Hause und auch im Vorwege von Pflegebedürftigkeit, mit Blick auf Hilfen im Haushalt, Betreuungs- und Dienstleistungsangebote. Allerdings: Bei acht Pflegestützpunkten und etwa 80.000 Pflegebedürftigen kommen auf einen Stützpunkt fast 10.000 Bürger mitsamt ihren Angehörigen und Ratsuchenden. Aber: Andere Bundesländer sind weiter zurück. In Thüringen gibt es zwei; Brandenburg aber sogar 18.
Pflege und Geld
Auf dem Land sieht es zum Teil noch anders aus als in der Stadt. Hier ist es zuweilen noch eher so, dass jeder jedem hilft, und die Netzwerke der Familien noch intakter sind. Aber die Zeiten ändern sich auch hier. Oft kann nicht mehr fachgerecht gepflegt werden: Eine ältere Dame im Bett aufrecht hinzusetzen erfordert Kraft. Die hat nicht jeder. Abhilfe bieten ambulante Dienste. Sie kümmern sich in Hamburg laut Statistik um 22.402 Menschen; 18.123 leben stationär in Pflegeheimen; 34.591 bekommen ausschließlich Pflegegeld. Die Höhe richtet sich nach dem Pflegegrad. Je höher, desto mehr. Ab Januar 2022 gibt es für den zweiten Pflegegrad 724 Euro, für den fünften Pflegegrad 2.095 Euro.
Die Pflege zu Hause hat laut Gesetz Vorrang vor einer stationären Einrichtung. Das wirkt sich aus: Kommt ein ambulanter Pflegedienst ins Haus, rechnet dieser mit der Pflegekasse ab (Pflegesachleistung). Das Pflegegeld geht von der Pflegekasse indes direkt an die Pflegebedürftigen. Beim Pflegeheim zahlt die Pflegekasse z. B. ab Pflegegrad zwei nur 770 Euro, bei Pflegegrad fünf sind es 2.005 Euro. Der Rest kommt aus dem eigenen Portemonnaie oder, wenn das leer ist, vom Sozialamt – wenn die pflegebedürftige Person oder deren Ehe- oder Lebenspartner nicht ausreichend Einkommen oder Vermögen haben.
Pflege und Job
Geld allein aber macht die Sache nicht leichter. Mollenhauer: „Es muss viel geschehen. Wer Angehörige pflegt und dafür im Job pausiert, auch teilweise, sollte vernünftige Rentenansprüche in dieser Zeit erwerben können. Wenn die Pflegezeit vorüber ist, sollte die Rückkehr in den Job einfach sein, das Pflegegeld muss wie im Koalitionsvertrag versprochen, angehoben werden, Angehörige brauchen einen gerechten Lohn für ihre Arbeit, notwendig ist ein Entlastungsbudget – und nötig sind mehr Angebote wie verbindliche Möglichkeiten, einen Tagespflegeplatz zu nutzen.“
Geld ist eine Seite der Medaille: Auf der anderen Seite stehen Psyche, seelische Belastung. Aber: Auch Pflegepersonen können Urlaub machen. Wer keine Vertretung möchte, wählt eine Tages-, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege. Bei der Tagespflege besucht ein Pflegebedürftiger tagsüber eine Einrichtung, um versorgt zu werden, zu klönen. Die Kurzzeitpflege ist für Angehörige, wenn’s eng wird. Die zu pflegende Person wechselt, etwa nach Krankenhausaufenthalt, zur Genesung und für absehbare Zeit in eine stationäre Einrichtung. Denn: Pflegenden Angehörigen gebührt nicht nur Respekt, sondern zuweilen auch eine Auszeit. Das heißt praktisch: Der demente Ehepartner wird morgens abgeholt, tagsüber betreut und ist zum Abendbrot wieder am gewohnten Tisch. Eine solche Tagespflege schafft Freiräume. Aber was können sie tun, wenn Sie selbst länger krank sind oder physisch eine Auszeit und Urlaub brauchen?
Auszeit und Pflege
Bei Urlaub oder Krankheit übernimmt die Pflegeversicherung unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten für die Verhinderungspflege für längstens vier Wochen im Kalenderjahr. Angehörige können wählen, ob ein ambulanter Pflegedienst, eine andere Pflegeperson als Ersatz ins Haus kommt oder ob vorübergehend im Heim betreut wird.
Kurz-, Verhinderungs- und Tagespflege
Der Gesetzgeber sieht eine Reihe von Alternativen und Entlastungen vor. Sie werden gewollt, aber oft nicht genommen, so die VdK-Studie: 61 Prozent wünschen sich mehr zwar Tages- und Nacht-, 77 Prozent mehr Kurzzeit- und 84 Prozent mehr Angebote zur Verhinderungspflege (84 Prozent). Aber: Sie werden kaum in Anspruch genommen, auch wegen der Zuzahlung: Über die Hälfte schreckt dies von Pflegedienst, Tages-, Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege ab. Die Studie vermutet: „Vom Pflegegeld, das 82 Prozent der Befragten bekommen, bliebe sonst zu wenig übrig.“
Zuweilen müssen Angehörige auch von jetzt auf gleich starten und kurzfristig pflegen: Wer berufstätig ist, kann eine berufliche Auszeit in Form von kurzzeitiger Arbeitsverhinderung, Pflegezeit und Familienpflegezeit nutzen. Schleichen sich Einschränkungen in den Alltag ein – und wird dauerhaft Hilfe gebraucht, ist der Pflegegrad zu beantragen. Er bestimmt Leistungen, Hilfsmittel oder auch Pflegegeld. Das geht nicht direkt an Angehörige, sondern an die hilfsbedürftige Person. Sie entscheidet, wer was bekommt. Anders beim Pflegeunterstützungsgeld. Diese Lohnersatzleistung ersetzt das entgangene Arbeitsentgelt während einer kurzen Pflegezeit. Zudem übernimmt die Pflegekasse Zahlungen zur Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Unfallversicherung, wenn die Bedingungen erfüllt sind. Wer pflegt, stellt einen Antrag auf Zahlung der Rentenbeiträge. Damit laufen die Beitragsjahre weiter.
Was passiert, wenn etwas schiefgeht, wenn der greise Großvater stürzt oder der Pflegende selbst? Eine gesetzliche Unfallversicherung greift für pflegende Angehörige nur für die Zeit, in der im Haus gepflegt wird (oder auf dem Weg dahin). Ein Ausflug ins Theater ist nicht versichert. Und: Wer selbst nicht sozialversicherungspflichtig arbeitet, ist nicht geschützt. Auch krankenversichert ist keiner automatisch, weil er pflegt. D. h.: Wer nicht sozialversicherungspflichtig im Job ist oder eine Familienversicherung hat, sollte sich freiwillig krankenversichern.
Nächstenliebe
Bei all dieser Bürokratie: Laut VdK-Studie können sich nur zehn Prozent vorstellen, in einem Pflegeheim versorgt zu werden, bei den Pflegebedürftigen sind es 2,3 Prozent. Also setzen offenbar viele auf „Nächstenliebe“. Und sie finden Zuspruch. Gemäß Studie ist es für 79 Prozent der Pflegenden „selbstverständlich“, ihre Nächsten zu versorgen.
Doch auch bei aller Nächstenliebe geht manchen Nächsten zuweilen die Puste aus! Was dann? Eine mögliche Anlaufstelle ist eine der Angehörigenschulen in Hamburg: „Wir unterstützen pflegende und Sorgearbeit leistende An- und Zugehörige. Dies kann schon bei der Vorbereitung der Pflegesituation sein, etwa bei Informationen zu Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung. Häufiger unterstützen wir im Akutfall, wenn der Angehörige plötzlich pflegebedürftig wird, die Pflegebedürftigkeit nicht aufgefallen ist, was häufig ist bei Demenz, oder die Pflegeperson plötzlich ausfällt. Hier beraten wir oder bieten Pflegekurse oder Gespräche an.“ Aber auch bei einer ins Auge gefassten Kurzzeit-, Tages- oder Verhinderungspflege gibt’s Hilfe, etwa wenn der Pflegegrad beantragt werden muss. „Wir unterstützen bei der Vorbereitung der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst und beraten individuell zu Hause über die Möglichkeit der Nutzung von Geldern“, sagt Janina Herbst von der Hamburger Angehörigenschule g GmbH.
Pflege und Wert
Diese individuelle Beratung und die von Angehörigen oft eingeforderte gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung ist nur eine Seite. Auf der anderen Seite steht – auch – der volkswirtschaftliche Wert, den Angehörige schaffen. Sie entlasten sonst zu bauende Pflegeheime, Krankenkassen, Pflegekassen.
Geld und Anerkennung
Klaus Wicher, Landesvorsitzender des SoVD Hamburg, weist auf diesen wirtschaftlichen Aspekt hin: „Der Umfang der häuslichen Pflege beläuft sich auf rund 21 Stunden pro Woche und wird häufig in Kombination mit einer Teilzeit-Erwerbstätigkeit realisiert. Die Pflegedauer beträgt im Schnitt vier Jahre. Wer pflegt, muss oft den Beruf zurückstellen, das bedeutet Nachteile gegenüber denen, die Vollzeit und durchgängig arbeiten. „Auch Wicher sieht in erster Linie Frauen, die diese Doppelbelastung übernehmen, sei es nun aus Nächstenliebe oder weil für andere Formen der menschlichen Pflege eventuell das Geld fehlt: „Pflege treibt viele Frauen in die Altersarmut. Hinzu kommt eine große psychische, emotionale und zeitliche Belastung für sie.“ Aber auch Wicher weiß um die Distanz vieler zur Institution Pflegeheim. Es stößt auf, wenngleich oft die pflegende Familie bis ans Ende ihrer Kräfte – und ihrer pflegerischen Kompetenz kommt: „Niemand möchte gern ins Pflegeheim, die eigenen vier Wände bieten ein gewohntes Leben und Umfeld. Umso dankbarer sind viele, wenn sich die Familie bereit erklärt, die Pflege zu Hause zu übernehmen. Am meisten belastet sind dabei die Angehörigen, mental und finanziell. Immerhin werden sie durch die Möglichkeit der Kurz- oder Tagespflege zum Teil entlastet, auch die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe kann da unterstützen. Insgesamt muss diese Sorgearbeit aufgewertet werden.“
Wicher fordert zudem eine eigenständige finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige: Sie sollen ein „Pflegendengeld“ in Höhe des Mindestlohns erhalten. Es soll verhindern, dass Personen, die pflegen, finanziell abhängig oder arm werden. Zwar haben Arbeitnehmer bereits seit 2015 das Recht auf eine bezahlte Pflegezeit, wenn sie einen nahen Angehörigen pflegen. Aber: Es geht ums Detail: Nur für eine „kurzfristige Auszeit“ zahlt die Pflegeversicherung des Angehörigen 90 Prozent des ausbleibenden Nettoeinkommens. „Kurzfristig“ bedeutet: bis zu zehn Arbeitstage. Das hat mit Pflege Älterer oder von Menschen mit Einschränkungen nichts zu tun. Sozialverbände treten dafür ein: Wenn jemand A sagt, soll er oder sie auch B bekommen. Wer sich dafür entscheidet: „Ich übernehme eine Pflege“, soll Anspruch haben auf Lohn und gesellschaftliche Anerkennung.
Dr. H. Riedel © SeMa
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