Betagt, aber nicht betucht
Älter, teuer, weniger – Inflation im Lebensherbst

Klaus Wicher,
SoVD-Landeschef
Demos waren früher was für junge Leute – eigentlich. Aber die Zeiten ändern sich. Anfang September gingen 700 Senioren in Hamburg auf die Straße: forderten einen Inflationsausgleich von 3000 Euro, weil die Teuerung den Lebensabend immer teurer macht. Die Alten mucken auf – und der grundgesetzliche Gleichheitsgrundsatz stärkt ihnen den Rücken. Denn: Die unversteuerte Inflationsausgleichsprämie kassieren Arbeitnehmer, egal, ob in Vollzeit oder Teilzeit, also auch Minijobber, Auszubildende und Rentner, die noch weiter an der Werkbank oder im Büro wirken. Aber eben nicht klassische Rentner.
Zum Aufbegehren der Alten passt ein neues Buch von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda in die Zeit. Er fordert auf: „Mehr Zuversicht wagen“: Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Inflation und Corona sind Grund genug, um frustriert durchs Leben zu gehen. Aber Brosda weiß, „wie wir von einer sozialen und demokratischen Zukunft erzählen können.“ Da ist Optimismus angesagt. Aber die Zahlen machen ihn nicht leicht: Das Statistikamt Nord meldete für 2023: 29 000 Senioren müssen mit Grundsicherung auskommen. Das sind neun Prozent der Bevölkerung ab 66 Jahren und drei Prozent mehr als im Vorjahr. 54 Prozent sind Frauen. 53 Prozent aller Rentner beziehen eine Rente von unter 1000 Euro. Menschen in Pflegeheimen bekommen Preiserhöhungen. Ihr Eigenanteil klettert um fünf bis sechs Prozent. Ältere, die sich selbst helfen, merken an der Supermarktkasse und bei Strom- und Gas: Die Inflation kriecht weiter voran. Ältere trifft es besonders. Das Damoklesschwert heißt: Altersarmut, gerade in dieser Zeit. Klaus Wicher, SoVD-Landeschef und Mitorganisator der Rentnerpro-teste im September, schlägt hier den ganz großen Bogen zum Grundgesetz, Art.1 Satz 1. Er fordert, verfassungswirklich die Gleichheit zu wahren, nicht nur im Geiste, sondern auch im Portemonnaie, egal, ob arm oder reich, alt oder jung: „Die Inflation trifft zwar alle – aber nicht alle spüren die Teuerung gleich. Wer keine Einnahmen hat, kann Kosten für die Wärmedämmung nicht steuerlich begünstigen; wer in Mietwohnungen wohnt, muss mit Kostensteigerungen rechnen. Es ist wie sonst auch: Der eine so, der andere so. Der eine hat eine auskömmliche Pension, die andere eine kleine Rente.“

Inflation für alle
Die Kosten sind zwar im Supermarkt gleich, rechnerisch. Wer – wie manche im Alter – viel Wärme braucht, dreht den Thermostat weiter auf oder friert. Wer viel zu Hause und nicht in der Kantine isst, kocht mehr und merkt, dass Lebensmittel um mehr als zehn Prozent teuer sind als im Vorjahr: Zucker, Marmelade, Honig und andere Süßwaren machten das Leben besonders sauer: Sie verteuerten sich sogar um knapp 20 Prozent.
Hier frisst sich die Inflation besonders tief in das Portemonnaie gerade von Älteren, weil sie spezielle Lebensumstände und Konsumgewohnheiten haben. Ein Beispiel. Ältere mögen’s warm. Und Öl und Gas sind teurer als in den Vorjahren. Manche Dinge des Lebens, die die Inflationsrate nach oben treiben, liegen besonders schwer im Warenkorb der Älteren. So lag die allgemeine Inflationsrate im August bei knapp über sechs Prozent. Dazu werfen die Statistiker rund 700 Dinge und Dienstleistungen, die alle privaten Haushalte nutzen, in einen Warenkorb und vergleichen ihn im Preis mit dem Vorjahresmonat. Rechnet man hier die nicht gerade billigen Lebensmittel und Öl und Gas heraus, waren es um die 5,5 Prozent im August. Aber: Allein Lebensmittel, auf die keiner verzichten kann, legten um elf Prozent zu.
Doch auch die Statistik kennt den Unterschied zwischen amtlicher und persönlicher Inflation. In die allgemeine Inflationsrate fließt die Preisentwicklung für all das ein, wofür alle privaten Haushalte Geld ausgeben. Christian Böse, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Informationsdienste Statistikamt Nord, erklärt: „Der Verbraucherpreisindex misst monatlich die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte in Deutschland kaufen. Die Veränderung des Verbraucherpreisindex wird als Teuerungsrate oder als Inflationsrate bezeichnet. Beim Berechnen verwenden wir einen Warenkorb, der rund 700 Güterarten umfasst und sämtliche von privaten Haushalten in Deutschland gekauften Waren und Dienstleistungen repräsentiert: Wie stark ein einzelner Haushalt von der Inflation betroffen ist, hängt davon ab, wie viel Geld er für welche Güter ausgibt. Wer zum Beispiel kein Auto hat, wird auch kein Geld für Kraftstoffe ausgeben – diese gehören aber zum Warenkorb der Preisstatistik.“
Wer es genau wissen will, nutzt den Rechner zur Berechnung der persönlichen Inflation ONLINE

Horst Emmel,
Stellvertretender
Präsidiumsvorsitzender der AWO Hamburg
152 Euro mehr
Das Statistikamt Nord macht eine Rechnung auf: In Hamburg stiegen die Verbraucherpreise im Juli im Vergleich zum Vorjahresmonat um 5,8 Prozent. Für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke werden 10,7 Prozent mehr Euro fällig, für Strom und Gas um 16,7 Prozent. Das heißt: Die Inflation bleibt Stachel im Alltag. Summa summarum müsste jeder Haushalt in Hamburg 152 Euro mehr im Monat mehr ausgeben, um die Einkaufstüte so voll zu haben wie 2022. Das heißt unterm Strich: Die Rentenerhöhung zum 1. Juli 2023 (4,39 Prozent West, 5,86 Prozent Ost) schmilzt. Rentner müssen einen realen Kaufkraftverlust hinnehmen. Öl, Gas und Co. liegen im Preis laut Statistischen Bundesamts im Juli 2023 um 5,7 Prozent höher als im Vorjahr. Insbesondere Strom wurde teuer.
Weniger dabei sein
Dabei geht es nicht nur um Essen und Trinken. Der Mensch lebt nicht von Brot allein ... Horst Emmel, stellvertretender Präsidiumsvorsitzender der AWO Hamburg: „Da Rentner immer mehr Geld für alltägliche Lebensmittel und die Strom- oder Heizrechnung bezahlen müssen, bleibt weniger Geld für gemeinsame Freizeitaktivitäten, wie zum Beispiel der Besuch im Museum, eines Konzerts oder Ausflüge mit Freunden. Und auch beim Monatsticket für Bus und Bahn, das den Besuch bei Freunden oder Ausflüge erst ermöglicht, müssen viele Rentner sparen, weil das Geld für Lebensmittel und Energie gebraucht wird. Das bedeutet, die gesellschaftliche Teilhabe wird durch die hohe Inflation besonders bei Rentnern in der Grundsicherung und bei denen mit einer geringen Rente enorm eingeschränkt.“ Dabei sein und mitmachen kostet heutzutage Geld – das aber geht für alltägliche Lebensmittel, Strom und Heizung drauf. Weil dabei sein, also Teilhabe, viel mit Mobilität per U- und S-Bahn oder Bus zu tun hat – und viel kein Auto haben, fordern die Senioren nicht nur die Prämie, sondern auch ein vergünstigtes Deutschlandticket in Höhe von 29 Euro.
Denn: Damit der Kostenberg die Senioren nicht platt walzt, müssen sie an anderer Stelle sparen. Emmel weiß, wovon er redet. Die 24 AWO Seniorentreffs, viele in finanziell schwächeren Stadtteilen, seien für viele die letzte Möglichkeit, sich gemeinsam mit anderen aktiv zu betätigen und sich auszutauschen. Der Gang zu den Hamburger Tafeln gehört für immer mehr Rentnerinnen und Rentner zum Pflichtprogramm, um zu überleben.

Karin Rogalski-Beeck,
Vorsitzende des Landesseniorenbeiratss
Inflation und Rente
„Auf den ersten Blick macht die Inflation keinen Unterschied, ob man noch im Job sei oder bereits in Rente“, so Karin Rogalski-Beeck, Vorsitzende Landes-Seniorenbeirat Hamburg: „Jedoch auf den zweiten Blick bestehen eben doch große Unterschiede. Rentner haben bisher nach lautem Protest einmalig im letzten Dezember 300 Euro bekommen, weil sie am Anfang einfach vergessen wurden. Die Rentenerhöhung zum Juli 2023 war eine ganz normale Erhöhung. Einen Inflationsausgleich haben Rentner nicht bekommen, und er ist auch nicht in Aussicht.“ Für Rogalski-Beeck sind alte Menschen bei allen Dingen des täglichen Bedarfs wie Strom, Gas und besonders bei Lebensmitteln wie alle Bürger betroffen. Aber: „Diejenigen, die eine kleine Rente haben, müssen noch mehr sparen, was sie eigentlich nicht mehr können, und vielen bleibt oft nur noch die Tafel. Diejenigen, die bisher eine gute Rente hatten, sich auch einmal einen Theaterbesuch oder einen Blumenstrauß leisten konnten, müssen sich jetzt sehr einschränken.“
Nachkrieg
Aber Rogalski entdeckt auch einen anderen Umgang mit der Situation heute, manche Ältere erinnern sich noch an die Nachkriegsjahre: „Ältere Menschen wissen, wie es ist, nicht alles sofort zu bekommen, sich einzuschränken und auf vieles erst einmal zu sparen, bevor man sich etwas leisten kann. Aber ist es gerecht, dass diejenigen, die in ihrem Leben hart gearbeitet haben, oft schlechte Löhne bekommen haben, die Rente darum oft nicht sehr hoch ist, sich jetzt in dieser besonderen Situation wieder hintenanstellen müssen? Ich glaube nicht, dass diejenigen, über die wir hier sprechen, optimistisch in die Zukunft schauen. Es sind eher diejenigen, die es eher ein Leben lang gewohnt sind mit wenig auszukommen. Gerecht ist das nicht.“

Prof. Dr. Franz Schultheis,
Seniorprofessor für Soziologie an der Zeppelin Universität zu Friedrichshafen
Chancenlos bei Kaufkraftverlust
Von der Praxis zur Theorie. Die Chefin des Hamburger des Landesseniorenbeirats, erhält Rückenwind von Prof. Dr. Franz Schultheis, Seniorprofessor für Soziologie an der Zeppelin Universität zu Friedrichshafen. Auch er schaut hinter die Oberfläche. Auch für ihn sind Ältere zunächst wie die meisten anderen in ihrer Lebenshaltung von der Inflation betroffen. Er sieht jedoch Unterschiede: „Anders als die jüngeren noch erwerbstätigen Generationen haben sie jedoch weniger Möglichkeiten, gegen einen Verlust an Kaufkraft aktiv anzugehen, und oft sehen sie auch ihre über viele Jahre ersparten Rücklagen durch die Inflation bedroht. Dabei ist jedoch besonders an jene Gruppe von Rentnern zu denken, die schon vorher aufgrund niedriger Renten, trotz oft lebenslanger Erwerbsarbeit, als Niedrigverdiener von Altersarmut betroffen waren und häufig nur durch Sozialleistungen wie bisher Hartz IV und nun mittels Bürgergeld und Grundrente ein Existenzminimum sichern können. Das Beziehen solcher Sozialleistungen wird dabei gerade von älteren Personen als entwürdigend angesehen.“
Altersarmut bei Nachbarn
Er verweist auf Nachbarländer wie Frankreich oder die Niederlande. Bei Blick über die Grenze zeige sich, dass Deutschland, so eine Studie des „Institut Wirtschaft und Gesellschaft“, Altersarmut weniger in den Griff bekommt. Während 2018 in Deutschland 18,7 Prozent der Rentner armutsgefährdet waren, galt dies in Frankreich für 7,3 und in den Niederlanden für 12 Prozent. Die deutsche Misere lag daran, dass, so Schultheis, die „Rentenanpassungen der letzten Jahrzehnte für niedrige Einkommensgruppen unzureichend waren. Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass der intergenerationelle Zusammenhalt früher stärker war und auch soziale Sicherheit unterhalb staatlicher Sozialleistungen bot.“
Krise und Kraft
Doch wie kommen die Älteren aus der Not heraus, wie gehen sie damit um? Manche erinnern noch die 1950er-Inflationsrate von 7 Prozent und sagen: Das schaffen wir jetzt auch. Wie gelingt es vielen Älteren, optimistisch in die Zukunft zu blicken? Schultheis ist skeptisch, aber nicht ohne Hoffnung: Für ihn nimmt jede Generation, seien es die 60-jährigen Babyboomer oder die Generation, die in der Ölkrise autofreie Autobahnen kennenlernen musste, Risiken und materielle Verschlechterungen auf ganz eigene Art wahr.: „Hat eine Generation schon die historische Erfahrung mit der Bewältigung von ökonomischer Krisen wie Wachstumseinbruch, Inflation, oder Arbeitslosigkeit machen müssen, dann kann daraus Resilienz erwachsen, die gegen Zukunftsängste wappnet.“
Wer Resilienz nur mit „dickes Fell“ oder Langmut übersetzt, greift zu kurz. Es geht um seelische Widerstandsfähigkeit und eine Geisteshaltung, mit der sich schwierige Lebensumstände und Krisen abfedern lassen. Manche Senioren sind so fit und können das. Deutschland hat, so Schultheis, bereits mehrere Phasen mit hoher Inflation erfolgreich gemeistert, so den Ölpreis-Schock in den 1970ern. Und vor allem für die Rentner hat die umlagefinanzierte Rentenversicherung mit hohen Rentenanpassungen den Vorteil, dass die Rentenanpassungen der Inflation zeitversetzt folgen.“ Er macht Mut, wenn er an die 1970er Jahre erinnert, in denen es bei der Rente einen großen Schluck aus der Pulle gab, nachdem die Teuerung erreicht hatte. 1973 kletterte die Inflationsrate auf 7,1 Prozent. Im selben Jahr legte die Rente um 11,35 Prozent, 1974 um 11,20 und ein Jahr später um 11,10 Prozent zu.
Das waren goldene Zeiten. Kommen diese wieder? Die Älteren fürchten: nein. Eine Studie des Instituts YouGov/Sinus zeigt die Meinung der Älteren: Heutige Jugendliche haben keine schöne Zukunft vor sich.
Dr. H. Riedel © SeMa
Jetzt den Artikel auf den sozialen Kanälen teilen: