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Elektronische Patientenakte

Digital mit Nebenwirkungen!

„Elektronische Patientenakte, E-Rezept – wie soll ich das der alten Dame klarmachen?“, sagt die Ärztin seufzend. Die „Arzthelferin“ assistiert: „Als ich für einen Termin beim Lungenarzt anrief, wollte der Anrufautomat einen Code von mir. Wenn ich schon überfordert bin, wie sollen das meine Eltern hinkriegen?“ Szenen einer Praxis. Welche Tabletten hat der Kardiologe verschrieben, wie oft hat der Hausarzt zu hohen Blutdruck gemessen? Wie sieht das Röntgenbild aus der Uniklinik aus? Bislang herrschten in der Praxis von Haus-, Fach- und Zahnärzten Papier und Kuli, Fax und PC. Das sollte ab 2021 vorbei sein. Menschen, die in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, sollen nun auf Wunsch eine elektronische Patientenakte (ePA) ihrer Krankenkassen erhalten, in der medizinische Daten, Befunde und mehr gespeichert sind. Privatpatienten ziehen nach.

Digital

Die ePA hielt zuerst Einzug in Arztpraxen und Apotheken, dann kamen Krankenhäuser, Pflegeheime, Physiotherapie-Praxen ...  Seit 1. Juli 2021 sind Arztpraxen und Krankenhäuser verpflichtet, sämtliche ePA lesen und mit Daten füllen zu können – auf Wunsch des Patienten. Ist das nicht möglich, droht Strafe. Damit Ärzte oder andere die ePA „ziehen“ können, muss der Versicherte sein Einverständnis dazu geben. Der Patient hat die Hoheit über die ePA; Zugriffsrechte können jederzeit widerrufen werden. Bedingung: Der Patient verfügt über ein Smartphone oder Tablet. Denn die ePA funktioniert nur über ein Programm, das hier läuft (App).

Freiwillig

Patienten sind freiwillig dabei: Sie haben zwar ein Anrecht darauf und können stets Einsicht nehmen – wenn die Akte verfügbar ist. Auch ob sie überhaupt angelegt wird, liegt in der Hand der Patienten – noch. Sie können entscheiden, ob sie das digitale Dossier über ihre Gesundheit wollen oder nicht. Das könnte sich ändern.

Denn: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat viel vor. Der „zentrale Bestandteil der digitalen Transformation im Gesundheitswesen“ könnte Pflicht werden. Die Ampelregierung erwägt, den Weg zur ePA umzustellen: Bisher müssen Versicherte die Akte bei ihrer Krankenkasse beantragen und ihre Zustimmung geben. Kritiker halten dies für zu kompliziert, weil diverse Codes nötig sind. Sie fordern, dass Kassen künftig allen Versicherten automatisch eine ePA einrichten müssen. Das heißt: Legen die Patienten keinen Widerspruch ein, wird die Akte angelegt. Das ist das sogenannte Opt-Out-Prinzip.

Bei allem digitalem Elan: Bisher hat der Plan nur unerwünschte Nebenwirkungen: Lauterbach muss in einer Anfrage an die Bundesregierung auf nüchternen Magen lesen: Nur 1 Prozent der gesetzlich Versicherten nutzt bisher eine ePAs. Bis Ende Juni 2023 stellten die Kassen 704.050 ePA zusammen. Das soll sich ändern: Der Entwurf eines „Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ geht voraussichtlich im November in den Bundestag, um im Februar 2024 in Kraft zu treten. Der Plan: ePAs werden grundsätzlich angelegt, wer nicht will, sagt ausdrücklich „Nein“. Bis 2025 sollen 80 Prozent aller gesetzlich Versicherten eine haben.

Kostenlos

Wie aber kommt die ePA zum Patienten?  Patienten mit Gesundheitskarte beantragen sie kostenlos bei der Krankenkasse und willigen schriftlich in die Datenspeicherung ein. In der Regel sind ein Online-Zugang zur Krankenkasse und eine App für Smartphone oder Tablet nötig. Für die Registrierung  reicht die Krankenversicherungsnummer, eine PIN der Gesundheitskarte sowie eine E-Mail-Adresse. Wer kein Smartphone hat (Handy reicht nicht), fragt den Arzt (nicht den Apotheker): Die ePA wird dann in der Praxis aufgeschlagen und befüllt, die hier (und nur hier) vorliegt. Auch  hier hat der Patient das Sagen, was in die Akte kommt.

Zusammengehörig

In der ePA kommt zusammen, was zusammengehört: Befunde der (Fach-)Arztpraxen, Diagnosen, Ergebnisse aus MRT, CT, Röntgen, Medikationspläne, Notfalldaten, Laborberichte, Impfpass und selbst Mutterpass und Bonusheft vom Zahnarzt. Dazu Kontaktdaten von Ärzten und Personen, die  im Notfall benachrichtigt werden sollen oder sogar die Protokolle des Fitness-Trackers, Organspende-Ausweis, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. All diese Unterlagen sind papierlos verfügbar, zentral gespeichert und müssen nicht aus Schubladen und Aktenordnern zusammengesucht werden. Zukunftsmusik: Der Notfall-Mediziner greift auf die Akte zu und erfährt, dass der Patient im Park allergisch gegen Wespen ist und dass das Herzrasen diesen Grund hat ...

Im besten Fall können Kliniken, Praxen und Apotheken im Netzwerk sehen, was der andere macht und gemacht hat. Der Insel-Blick wird weiter, Doppeluntersuchungen können vermieden werden. Der eine Haus-Arzt hat eventuell ein Aha-Erlebnis, wenn die Kollegin anderer Fachrichtung zum Schluss gekommen ist, dass die Magenschmerzen eventuell doch nur durch eine Magenspiegelung erklärbar werden. Und der Patient kann mitlesen. Er kann sich die Daten auf das Tablet oder Handy holen, sich kundig machen, rückfragen und sich mehr um die eigene Gesundheit kümmern.

Mündig

Der Patient rückt auf in der Hierarchie der Wissenden: Er und sie können selbst aktiv werden und etwa ein Blutdrucktagebuch oder ein Schmerzprotokoll hochladen. Er wird – im Idealfall – zum Manager seiner Gesundheit: Er kann Daten löschen, hinzufügen, den Zugriff auf bestimmte Ärzte begrenzen. die Dauer einengen .... Und sicher sein, so die Befürworter: Krankenkasse oder Arbeitgeber erhalten keine Einsicht. Krankenkassen haben nur ein  Schreiberecht zum Einstellen von Abrechnungsunterlagen – wenn sie eine Berechtigung haben. Das heißt: Wer die ePA-App hat, bestimmt die Musik. Er sagt, wer die digitalen Daten einsehen und wer nicht. Falls bestimmte Befunde nicht gespeichert werden sollen, kommen sie gar nicht erst rein oder fliegen wieder raus. Wenn der Zahnarzt in der Nachbarschaft nichts von Blutwerten einer Schwangerschaft wissen soll, öffnet sich dem Dentisten nur ein schmales Datenfenster.
Bereits 2017 beteiligte sich das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) mit der Techniker Krankenkasse an der Entwicklung der elektronischen Gesundheitsakte. Damals hieß die ePA zwar noch eGA. Die Ziele aber waren gleich: Versicherte sollten jederzeit über ihre Gesundheitsdaten verfügen können und „bestmögliche Transparenz zu ihrer medizinischen Versorgung erhalten“. Anja Brandt, Referentin für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit am UKE, nennt heute die Vorteile: „Die digitale Patientenakte ermöglicht Patienten wie Behandelnden einen leichteren Zugriff auf aktuelle und genaue medizinische Informationen wie medizinische Befunde, Diagnosen, Medikamentenlisten und vergangene Behandlungen. So können sich auch Patienten noch aktiver in ihre Gesundheitsversorgung einbringen, indem sie ihre eigenen Gesundheitsdaten im Blick haben und ihre Fragen oder Bedenken direkt mit ihren Behandlern besprechen.“

Praktisch

Dabei können gerade Ältere von der ePA profitieren: „Ältere haben häufiger eine umfangreichere medizinische Vorgeschichte mit mehr Arztbesuchen und Diagnosen. Eine digitale Patientenakte ermöglicht es ihnen, einfach auf ihre Gesundheitsdaten zuzugreifen, ohne physische Ordner durchsuchen zu müssen. Zudem nehmen ältere Menschen häufig mehrere Medikamente ein. Eine digitale Patientenakte kann dabei helfen, den Überblick über diese Medikamente zu behalten, da sie eine Liste der verschriebenen Arzneien und deren Dosierungen enthält. So können Ältere die in einer digitalen Patientenakte enthaltenen Informationen über ihren Gesundheitszustand und zu ihren Diagnosen nutzen, um besser informiert Entscheidungen zu treffen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass ältere Menschen möglicherweise Unterstützung bei der Nutzung digitaler Technologien benötigen, um alle Vorteile der digitalen Patientenakte vollständig nutzen können.“

Auch Anke Puzicha von der Hamburger Verbraucherzentrale, Abteilung Gesundheit und Patientenschutz, verbindet mit der ePA die Hoffnung, dass Gespräche zwischen Göttern in Weiß und dem Kasssen-Normalpatienten besser klappen: „Bei der Kommunikation der Akteure im Gesundheitswesen – etwa zwischen Ärzten oder Krankenhäusern und Patienten – haperte es bisher häufig. So wurden etwa Untersuchungsergebnisse in den Akten einer Praxis gesammelt, standen dem Patienten selber aber nicht unmittelbar zur Verfügung. Wenn er den Arzt wechselte oder einen Facharzt aufsuchte, mussten Untersuchungen erneut durchgeführt werden, oder es fehlten wichtige Informationen.“ Hier liegt einer der Vorteile der ePA. Wird ein neuer Arzt hinzugezogen oder etwa eine „zweite Meinung“ bei schweren Erkrankungen eingeholt, kann sich der neue Mediziner rasch ein Bild per ePA machen. „Ärzte – gerade auch neue Ärzte – können darauf zurückgreifen. Das kann zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen: Diagnosen können genauer gestellt werden, überflüssige Doppeluntersuchungen werden verhindert, Risiken können gesenkt werden. Auch ein neuer Arzt kann auf die letzten Blutwerte zugreifen und weiß, welche Medikamente genommen wurden und in welcher Dosierung.“

Sparsam

Und wie sieht es mit den Krankenkassen aus? Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, sieht Vorteile durch die ePA – auch für Kassen: „Wir können durch eine verantwortungsvolle Nutzung von Daten die Gesundheitsversorgung schneller, sicherer und effizienter machen. Eine Voraussetzung dafür ist die Anwendung der elektronischen Patienten- akte. Der Schutz der persönlichen Daten ist dabei sehr wichtig. Jeder soll im Rahmen des Opt-Out-Verfahrens die Möglichkeit haben, eine informierte Entscheidung zu treffen. Wir werben für die Nutzung der elektronischen Patientenakte und werden unsere Versicherten rechtzeitig informieren. Aber: Wenn wir zu hohe Hürden für die Datennutzung und Digitalisierung im Gesundheitswesen errichten, enthalten wir unseren Bürgerinnen und Bürgern Dinge vor, die in anderen Ländern möglich sind.“

Kompliziert

Aber: Digitalisierung baut auch Hürden auf. Sozialverbände fordern daher auch Barrierefreiheit auch im Gesundheitswesen. Und hier geht es nicht nur um Stufen aus Stein. Das E-Rezept, der Dringlichkeitscode auf der Überweisung des Hausarztes, eine Online-Buchungsplattform wie Doctolib zur Terminbuchung, die Hotline ... Die Gelegenheit, auf gut Glück ins Wartezimmer zu stürzen gibt’s nur noch in der „Schwarzwaldklinik“. Mancher Senior hält die Stimme des smarten Anrufbeantworter-Systems für echt und wartet nicht ab, ob die „2“ für ein Rezept oder die „3“ für einen Termin oder die „1“ für alles andere zu drücken ist ...Dabei hatten 2017 vor allem ältere Menschen sich die Einführung digitaler Patientenakten gewünscht, so eine Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbands. 82 Prozent hielten sie für sinnvoll. 78 Prozent würden sie auch selbst nutzen. Antje Kusalik, Pressesprecherin, AOK Rheinland/Hamburg sagt: „In der elektronischen Patientenakte werden alle relevanten Informationen digital gebündelt und sind jederzeit verfügbar. So können Ärzte im Krankenhaus über den Notfalldatensatz alles Wichtige für die Erstversorgung der Patienten abrufen. Apotheken können – die Einwilligung der Patienten vorausgesetzt – die gespeicherten Informationen für die individuelle Beratung zu Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten und Allergien nutzen. Dies ist grundsätzlich für alle Altersgruppen relevant. Die Relevanz dieser Informationen steigt aber mit der Anzahl der Vorerkrankungen und der eingenommenen Medikamente – und damit üblicherweise mit dem Alter.“

Altersbedingt

Auch für Kusalik ist nicht zwingend das Alter ausschlaggebend für die Nutzung digitaler Angebote, sondern eher die digitale Kompetenz der Versicherten. Gerade für Ältere bietet die ePA altersbedingte Vorteile: „Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der Arztbesuche. Auch die Vielfalt aufgesuchter Fachärzte nimmt zu. Für viele wird es zunehmend schwieriger, den Überblick über die Untersuchungsergebnisse zu behalten. Im Gespräch mit dem Arzt erinnern sie sich mitunter nicht oder falsch an vorangegangene Befunde. Das kann dazu führen, dass sie weniger schnell oder nicht zielführend behandelt werden können, weil nicht alle notwendigen Informationen sofort verfügbar sind. Die ePA behebt dieses Problem.“ Vorteile ergeben sich aber erst, wenn die ePA praxistauglich ist: „Für einige Patienten – hierzu zählen vor allem Hochbetagte – sind die Hürden zur Beantragung einer ePA aktuell zu hoch.  

In einer Schrift der Verbraucherzentrale des Bundes findet sich eine Erläuterung, um den alten Leitz-Ordner gegen die ePA zu tauschen: „Außerdem benötigen Sie eine sicher zugestellte, gültige und NFC-fähige elektronische Gesundheitskarte (NFC-eGK) und die dazugehörige PIN. Für die PIN-Zustellung müssen Sie sich bei Ihrer Krankenkasse identifizieren. Bei der zweiten Lösung ist die ePA ist mit Ihrem Smartphone gekoppelt. Als zweiten Faktor benötigen Sie ein Passwort, das Sie im Registrierungsprozess vergeben. Sie haben zwei Möglichkeiten, sich anzumelden: 1. mit einer PIN und der persönlichen NFC-fähigen Gesundheitskarte oder 2. mit einer Zwei-Faktor-Authentisierung.“ Alles klar? Vielleicht hat Karl Lauterbach vergessen, dass Ex-Kanzlerin Merkel vor genau zehn Jahren erklärte: „Das Internet ist für uns Neuland.“ Und nun sollen Senioren souverän mit dem Smartphone umgehen wie ein digitaler Derwisch?

Selbstbestimmt

Die neue Akte stößt auch bei Patientenschützern auf Zustimmung, die Abkehr vom Freiwilligkeitsprinzip jedoch auf Ablehnung. Eugen Brysch, Vorstand, Deutsche Stiftung Patientenschutz, Dortmund: „Die Einführung der elektronischen Patientenakte ist längst überfällig. Denn dadurch können Mehrfachbehandlungen verhindert und unerwünschte Wechselwirkungen durch Arzneimittel frühzeitig erkannt werden. Entscheidend ist allerdings das selbstbestimmte Handeln der Patientinnen und Patienten zu wahren. Deshalb ist die Widerspruchslösung hier inakzeptabel. Schließlich bedeutet Schweigen nicht Zustimmung. Das gilt auch für die Weitergabe von Patientendaten an die Forschung. Zudem müssen anders als vorgesehen alle medizinischen Informationen rückwirkend und lückenlos in die E-Akte – gerade für über 60-Jährige – eingepflegt werden. Ebenso hat der Gesetzgeber Menschen zu berücksichtigen, die nicht technisch versiert sind. Dazu gehören schließlich mehr als 20 Prozent der über 65-Jährigen. Eine Herausforderung wird es somit sein, auch dieser oft pflegebedürftigen Patientengruppe einen differenzierten Umgang mit ihren Daten zu ermöglichen.“

Verbraucherschützerin Puzicha warnt zudem vor einen digitalen Zwei-Klassen-System: „Wer kein digitales Endgerät hat – also weder Smartphone noch PC, bekommt die ePA zwar auch, kann sie auch befüllen lassen, aber selber nicht einsehen. Daher fordern wir mindestens Terminals etwa bei den Krankenkassen, wo Versicherte auf ihre Akte zugreifen können. Letztlich wird es ohne eine Auskunftspflicht – in Papierform – nicht gehen. Auch sie hält die ePA für geeignet, um zur Gesundheitsversorgung beizutragen. Das Anmeldeverfahren sei allerdings „viel zu kompliziert.“

Doch nicht nur Umgang mit der ePA will gelernt sein. Skeptiker sorgen sich auch um Datenschutz und Sicherheitslücken. Ein spektakuläres Datenleck aus Finnland im Oktober 2020: Hacker eroberten Daten und erpressten Patienten in psychiatrischer Behandlung: Wer die geforderte Geldsumme – umgerechnet etwa 200 Euro – nicht zahlte, wurde mit Bloßstellung bedroht. Ein weiterer Interessent könnte die Gesundheitswirtschaft sein: Wer weiß, was die Menschen plagt, kann besser planen.      

 

Dr. H. Riedel © SeMa

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