Vom Stein zum Bild
Hamburg – Hauptstadt der Griffelkunst
Es begann in der Jurazeit. Vor 200 bis ca. 142 Millionen Jahren erstreckte sich dort, wo sich heute die Schwäbische Alb befindet, ein tropisches Flachmeer. Die Meeresablagerungen aus dieser Zeit bilden die Gesteine, aus denen die Alb aufgebaut ist. Im Laufe der Zeit änderten sich die Umwelt- und Ablagerungsbedingungen in diesem Meer. Das führte zu einer Veränderung der Zusammensetzung und Farbe der Sedimente. Schwammriffe prägten das Meer im Oberjura. Fossile Riffe und Kalkschlämme, die sich damals am Meeresboden anreicherten, sind das Material der hellen Kalksteine, welche heute die Hochfläche der Alb bilden. Besonders feinkörnig und gleichzeitig fest ist der Stein im Großraum um Eichstätt – dort, wo um 750 der irische Wandermönch Sola begann, die Germanen zu missionieren. So erfolgreich, dass der Frankenkönig Karl – nach seiner Krönung in Rom im Jahr 800 Kaiser Karl – dem wackeren Missionar Husen, den Ort seiner Wirkungsstätte bei einem Besuch 793 schenkte. Sola baute eine Kirche im karolingischen Stiel. Steine gab es vor Ort genug. Einige ihrer Säulen sind noch heute erhalten. Keine 40 Jahre nach seinem Tod reichten, und Sola wurde zum Heiligen erklärt. Aus Husen wurde Solnhofen, und dann kehrte für fast 1.000 Jahre Ruhe ein.
Not macht erfinderisch
Mit einem goldenen Löffel im Mund kam Alois Senefelder 1771 in Prag nicht zur Welt. Immerhin ermöglichte ihm ein Sponsor das Jura- studium (!). Er versuchte sich als Schauspieler, Komponist und Verfasser von Theaterstücken. Schön wäre es für Senefelder gewesen, seine Werke an ein großes Publikum verkaufen zu können. Doch Drucke und Kupferstiche kosteten viel Geld, und genau das hatte Senefelder nicht ausreichend zur Vorfinanzierung. Dafür aber Erfindergeist. Kurzum – aus der Beobachtung, dass Wasser und Öl sich abstoßen, entwickelte Senefelder mittels Kalksteinplatten aus Solnhofen als Reproduktionsfläche ein Druckverfahren, das den bisherigen Drucken mittels Holz-, Kupfer und Stahlstich qualitativ überlegen und zugleich deutlich preiswerter war. Wie es genau geht, wird hier erklärt: https://www.youtube.com/watch?v=9xqoPGuntVE.
Bereits 1800 erschienen Mozarts Klavierkonzerte als „Lithografie“ wie die neue Technik genannt wurde. Bald eroberte sie Europa. Ob für Künstler oder Kartografen – die Lithografie erwies sich als vielseitig einsetzbar.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein ...
Gesund war das berufliche Umfeld von Arbeitern im ersten Quartal des letzten Jahrhunderts eher nicht. Für Ausgleich sollten ab 1921 im Norden Hamburgs, in Langenhorn, kleine Reihenhäuser mit großen Nutzgärten sorgen. Hühner, Kaninchen, selbst Schweine und natürlich viele Kinder bevölkerten die heute unter dem Namen Fritz-Schumacher-Siedlung bekannte Staatssiedlung.
Für die Kinder entstand zeitgleich eine schlichte Schule, die erst später durch den heutigen repräsentativen Bau, die jetzige Fritz-Schumacher-Schule, abgelöst wurde. Die Menschen, die hier lebten, kämpften täglich ums Überleben. Das Wort „Kunst“ fiel – wenn überhaupt – nur im Zusammenhang mit Dünger. Das zu ändern machte sich ein Mann zur Lebensaufgabe, der mit seiner Familie in das Haus Timmerloh 25, gleich neben der Schule, zog und ab 1923 dort auch unterrichtet: der Volksschullehrer Johannes Böse.
Im Jahr 1879 in Hemelingen bei Bremen geboren, absolvierte der Lehrerssohn eine Ausbildung am Lehrerseminar in Alfeld/Leine. Nach Tätigkeit in Hildesheim und Bremen zog es ihn 1902 nach Hamburg. Hier fand er schnell Anschluss an die reformierte Kunsterziehungsbewegung um den Kunsthalle Direktor Alfred Lichtwark. Diesem – wie Böse selbst Lehrer – lag sehr daran, Kunst aus den engen Mauern der Musen zu befreien. „Wir wollen nicht ein Museum, das dasteht und wartet, sondern ein Institut, das tätig in die künstlerische Erziehung unserer Bevölkerung eingreift!“
Mit seiner Ausstellung „Das Kind als Künstler“ richtete Lichtwark 1898 erstmalig den Fokus auf die künstlerische Kreativität von Kindern. In Lichtwarks Sinne machte sich Johannes Böse daran, Kunst unter die Dächer der Staatssiedlung zu bringen. Unterstützt wurde er dabei von der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg – vielen möglicherweise noch bekannt als die Herausgeberin des im Musikunterricht häufig genutzten „Hamburger Musikanten“. Der erste Vorsitzende der 1805 gegründeten Gesellschaft war Johann Carl Daniel Curio, der Namensgeber des 1908–1911 gebauten Curio-Hauses.
Struktur für die Kunst in der Staatssiedlung
Dass Johannes Böse dafür sorgte, dass in „seiner“ Schule Kunst Platz fand, verstand sich von selbst. Er wollte aber mehr – er wollte „in die künstlerische Erziehung der Langenhorner eingreifen“ und deren Interesse an zeitgenössischer Kunst über die Schule hinaus wecken.
Sein Ziel: Kunst in die Wohnungen der Staatssiedlung zu bringen. Was heute nach erhobenem Zeigefinger und Indoktrination ausschaut, scheint in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg unverdächtig gewesen sein. Böse bot den Siedlern „Kunstbetrachtungen“ an und war in „Vereinigungen zur Kunstpflege“ und Arbeitervereinen aktiv. Bei seiner Zielgruppe war es klar, dass Kunst kein Vermögen kosten durfte. Um dennoch Originale von Künstlerhand in die Wohnungen der Siedler zu bringen, entschied sich Böse dafür, Techniken anzubieten, bei denen der Künstler selbst den Druckträger mit seiner eigenen Arbeit versieht. Dazu gehören traditionell Radierungen und ihre verwandten Tiefdrucktechniken. Ebenso Flachdrucke Lithografie sowie Holzschnitte als Hochdruck. Um seine Vision von bezahlbarer Kunst langfristig zu sichern, gründete Böse 1925 die „Griffelkunst-Vereinigung Hamburg-Langenhorn e.V.“ mit zunächst 75 Mitgliedern. Seine Heimat hatte der Verein nach Fertigstellung der Backsteinschule in einigen Räumen des Dachgeschosses. Später kam im Keller sogar eine Druckwerkstatt hinzu.
Auch wenn Böses Grabstein wackelt – der Verein steht fest
Als Johannes Böse 1955 die Augen schloss, hatte sein Verein Nazizeit und Krieg unbeschadet überstanden. Wohl auch, weil sein Gründer von der SPD zur NSDAP und dann wieder zur SPD gewechselt war. Waren es bereits in den 30er Jahren mehr als 1.000 Vereinsmitglieder, die für einen Monatsbeitrag von 1,10 Reichsmark je Quartal ein Bild aussuchen konnten, sind es heute rund 4.500 Kunstbegeisterte, die nach dem gleichen Prinzip, aber zu höheren Konditionen inzwischen bundesweit Mitglieder der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg e.V. sind. Die Warteliste ist lang. Eine gravierende Änderung, die fast zum Zerbrechen des Vereins geführt hätte, wurde allerdings schon bald nach dem Tod seines Gründers eingeführt. Hatte Böse über die ersten Jahrzehnte völlig allein entschieden, welche Künstler mit welchen Werken für die Griffelkunst arbeiten durften, wurde das seiner Tochter Gerda als „Erbin“ nicht mehr zugestanden. Ihr Versuch einer Eigengründung scheiterte. Heute entscheidet eine Jury darüber, welche Werke den Mitgliedern angeboten werden. Nach Jahrzehnten in der Seilerstraße hat der Verein heute seinen Sitz in der Oberaltenallee. Hier rüstet er sich auch, im nächsten Jahr den 100. Geburtstag der „Griffelkunst“ zu feiern.
Zurück zu den Wurzeln
„De Börner“, die Gemeinschaft der Fritz-Schumacher-Siedlung Langenhorn e. V., hat sich unter ihren Mitgliedern auf die Suche nach Griffelkunstarbeiten gemacht, um sie in einer Ausstellung am 28. und 29. September von jeweils 11–17 Uhr in den Räumen des Seniorenclubs Langenhorn-Nord, Tangstedter Landstraße 223, in Hamburg- Langenhorn zu präsentieren. Es dürfte spannend sein zu entdecken, was die Suche nach den Wurzeln eines Vereins zutage gefördert hat, den es so weltweit kein zweites Mal gibt. Denn das Angebot der Griffelkunst war und ist durchaus hochkarätig. So haben nicht nur Gerhard Richter und Horst Janssen für die Griffelkunst gearbeitet, sondern auch Oskar Kokoschka, Sigmar Polke, Tom Hops und viele namhafte zeitgenössische Künstler mehr.
F. J. Krause © SeMa
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