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Sülze-Unruhen

Ein Fass mit Abfall brachte den Volkszorn zum Überlaufen. Bei den „Sülze-Unruhen“ im Juni 1919 wurde das Rathaus beschossen!

Walther Lamp’l (1891–1933) war der Militär-Kommandant für Groß-Hamburg.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 war das Elend noch nicht vorbei. Die Hamburger hungerten. Aber nicht alle. Im Dezember 1918 wurden das Hotel Atlantic, der Alsterpavillon und der Ratsweinkeller als „Symbole bourgeoisen Wohllebens“ Ziel von Plünderungen. Zu Neujahr wurden Alsterschwäne geschlachtet.

Am 16. April 1919 protestierte eine wütende Menge vor dem Rathaus gegen die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln und raubte anschließend erneut den Alsterpavillon aus. Zu Ostern, am 20. und 21. April, wurden mehrere Polizeiwachen überfallen. Es gab Schießereien und Tote. Als Reaktion auf die „schamlose Unverfrorenheit organisierter Verbrecherbanden“ verhängte der 28-jährige Militär-Kommandant von Groß-Hamburg, der Sozialdemokrat Walther Lamp’l, den Belagerungszustand über Hamburg, Altona und Wandsbek. Als dieser am 30. April endete, waren 18 Menschen umgekommen.

Zum Einsatz kam dabei eines der Freikorps, die gebildet worden waren, um die revolutionären Umtriebe nach dem Kollaps des Kaiserreichs mit Waffengewalt niederzuschlagen. Lamp’l beauftragte die 600 Männer der „Freiwilligen Wachabteilung Bahrenfeld“ damit, „St. Pauli von dem Verbrechergesindel zu säubern“ und „die Neustadt einer gründlichen Reinigung“ zu unterziehen. Einer von ihnen war der 17-jährige Bruno Streckenbach. Er wurde 1933 Chef der Hamburger Gestapo und leitete ab 1941 die Massenerschießungen der SS-Einsatzgruppen, mit denen der Holocaust begann. Die „Bahrenfelder“ spielten auch eine Hauptrolle bei den später sogenannten „Sülze-Unruhen“.

Satirische Postkarte von 1919 über die Einschusslöcher in der Rathausfassade.

Sie begannen am Morgen des Montags, 23. Juni 1919 in der Kleinen Reichenstraße. Beim Beladen eines Fuhrwerks mit Abfällen aus der Fleischwarenfabrik Heil & Co. ging ein Fass zu Bruch. Eine stinkende gelbe Brühe ergoss sich auf das Pflaster. Daraus also werde die „Heilsche Delicatess-Sülze“ hergestellt, argwöhnten die Passanten. Das Gerücht machte die Runde, Heil würde Hunde, Katzen und Ratten zu Sülze verarbeiten. Zufällig kamen zwei Politiker und ein Mitarbeiter der für Lebensmittelpreise zuständigen Stelle vorbei und inspizierten spontan die Firma, in der auch Felle gegerbt wurden. „Hurra, da haben wir ja einen Hundekopf!“, rief einer von ihnen aus.

Das war das Signal für die rund 200 Leute auf der Straße, in den Betrieb einzudringen und ihn zu verwüsten. Die paar Polizisten konnten nur tatenlos zuschauen. Ein inzwischen auf 1000 Menschen angewachsener Mob schleppte den 66-jährigen Firmenchef Johann Jacob Heil zum Rathausmarkt und warf ihn von der Schleusenbrücke in die Kleine Alster. Zwei Polizisten zogen ihn aus dem Wasser und brachten ihn in ihrer Wache im Rathaus in Sicherheit. Warnschüsse hielten die Menge davon ab, das Gebäude zu stürmen. Dass ein Kriminalinspektor Heil verhaftete und die „strengste Untersuchung“ versprach, beruhigte die Lage vorerst.

Doch am nächsten Morgen kochte der Volkszorn wieder hoch. Vor der Firma Heil, dem Rathaus und dem Hauptquartier der Polizei im Stadthaus versammelten sich aufgebrachte Bürger. Arbeiter von Heil und anderen Fleischfabriken wurden in einem Spießrutenlauf auf den Rathausmarkt gezerrt und an eine Art Pranger gestellt. Am Mittag wurde das Kriegsversorgungsamt am Großen Burstah besetzt, das auch nach Kriegsende für die Verteilung der Lebensmittel zuständig war. Der Amtsleiter wurde zum Rathausmarkt gebracht. Nachdem er beteuert hatte, nicht für die Produktionsbedingungen bei Heil zuständig zu sein, ließ man ihn frei.

Im Juli 1919 fand auf dem Rathausmarkt eine Parade des „Korps Lettow“ statt.

In der Nacht zum 25. Juni wurden Waffengeschäfte ausgeraubt. Militär-Kommandant Lamp’l verkündete erneut den Belagerungszustand. Das Rathaus wurde umstellt und beschossen, ein Waffenstillstand ausgehandelt und gleich gebrochen. Ein Mob drang über die Börse in das Rathaus ein. Zu dessen Schutz hatte Lamp’l die „Bahrenfelder“ aufgeboten.

Die ganze Nacht über feuerten die Belagerer und das Freikorps aufeinander. 14 „Bahrenfelder“ starben. „Hamburg glich heute einem Kriegslager, einer vom Getümmel des Krieges erfassten Stadt, in der an die Stelle der friedlichen Arbeit lediglich die Flinten, die Handgranate und die rohe Gewalt getreten sind“, schrieb eine Zeitung.

Am 27. Juni befahl Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) in Berlin die „Reichsexekution“. Mit 10 000 Mann besetzte der für seine Grausamkeit in Deutsch-Ostafrika berüchtigte Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck am 1. Juli die Stadt. „Diese aufgeladene Situation nutzte die KPD zu einem Aufstand gegen den von der SPD geführten Senat“, heißt es zu einer „Ehrentafel“ für die „Bahrenfelder“ im Turm der Petrikirche an der Mönckebergstraße. Tatsächlich erklärte die KPD am 28. Juni: „Die Partei verwirft jeden Versuch, sich mit Waffengewalt dem Einmarsch der Regierungstruppen zu widersetzen.“

Für ein halbes Jahr errichtete das „Korps Lettow“ ein Schreckensregime mit willkürlichen Verhaftungen und mutwilligen Erschießungen. Am Ende waren an die 90 Tote zu beklagen. Im Oktober 1919 stellte ein Gericht fest, dass die „Heilsche Delicatess-Sülze“ Maden enthielt und verurteilte den Fabrikanten zu drei Monaten Gefängnis.

Text: Volker Stahl © SeMa/Fotos: Staatsarchiv Hamburg

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