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Ohne App ins Abseits – rollt eine digitale Ausgrenzungswelle?

Wer hat, der hat. Das galt schon bei den alten Römern, und es gilt auch heute noch. Unverändert auch das Bedürfnis, zu zeigen, dass man hat oder etwas ist. Und da sie ohnehin vonnöten war, bot sich die Bekleidung an, jedermann seine Besonderheit zu zeigen. Als Projektionsfläche der Eitelkeit wurde sie rund um den Globus selbst dann geschätzt, wenn sie ihren Trägern einiges abverlangt. Denn sie hatte und hat es häufig auf sich. Wertvolle und zugleich schwere Stoffe, geschmückt mit oft goldverzierten Applikationen, verlangen ihren Trägern einiges ab. Im Bürgermeistersaal des Hamburger Rathauses zeigt ein drei mal fünf Meter großes Gemälde von Hugo Vogel den Senat der Stadt in seiner viele Kilo schweren Amtstracht mit Flügelärmeln und zierenden Applikationen beim Einzug in das neue Rathaus am 26. Oktober 1897. Vermutlich war da nicht nur der Muff von 1000 Jahren unter den Talaren – vermutlich konnten sich die Herren gut riechen.

Applikation – das XXL-Teekesselchen

In der Sendung „Frag doch mal die Maus“ am 14.03.2024 wollte Loreley-Teodora (9 Jahre) aus Köln wissen, was ein „Teekessel- chen“ ist und woher der Name kommt. Klar, dass die Maus Rat wusste. Das Wort „Teekesselchen“ ist selbst ein Teekesselchen. Einmal ist das ein Kessel, um Wasser für den Tee zu kochen – und zweitens ein früher gebräuchliches Wort für Dummkopf. Hahn und Hahn, Strauß und Strauß – Worte mit zweifacher Bedeutung gibt es etliche. Das Wort Applikation schlägt sie alle und hat gleich acht Bedeutungen:

1. Medizin: Das Verabreichen, das Anwenden von Heilmitteln, Arzneimitteln
2. Eine Aufnäharbeit, ein auf einen Stoff aufgenähtes Muster,eine Verzierung des Stoffes, Kleiderschmuck, Wäscheschmuck
3. EDV: ein Software-Programm für Anwender, ein Anwendungsprogramm
4. Auf Tafeln, Karten o. ä. aufgebrachte, aufgelegte, haftende Symbole im Unterricht oder für Anschauungszwecke, Demonstrationszwecke
5. Gehoben: Anwendung, Gebrauch
6. Katholische Religion: das Feiern einer Messe für bestimmte Anliegen oder Personen
7. Veraltet: ein Gesuch, eine Bittschrift
8. Veraltet: eine Bewerbung

Während bis auf die textile Applikation fast alle anderen Bedeutungen kaum noch Anwendung finden, hat eine – nun modisch verkürzt auf App – einen inzwischen fast bedrohlichen Siegeszug angetreten. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird sie im öffentlichen und privaten Leben eine Position einnehmen, die unüberwindbar ist. Was aber ist eine „App“? 

Mit Speck fängt man Mäuse – mit Preisnachlässen,
die als Köder den Angelhaken „App“ an der Datenangel verdecken, fischt nicht nur Edeka nach den Daten der Kunden, denn die sind mehr Geld wert als der Köder. Foto: Krause

www.marketing.ch erklärt:

App (Kurzform von Applikation) bedeutet übersetzt „Anwendung“. Gemeint sind damit kleine Programme, die auf mobilen Geräten wie Smartphones oder Tablets installiert werden können. Üblicherweise werden Apps aus dem App-Store (iOS) oder dem Google Playstore (Android) heruntergeladen. Apps sind zusätzliche Anwendungen, die nicht zwingend installiert werden müssen, damit ein Betriebssystem funktioniert. Apps können viele unterschiedliche Funktionen übernehmen, dazu zählen zum Beispiel Telekommunikation und Unterhaltung. Apps erweitern also die Grundfunktionen eines Gerätes. Unterschieden werden sie meist durch kostenpflichtige und kostenlose Angebote. Letztere finanzieren sich größtenteils über Werbung, die bei der Verwendung der App eingeblendet wird. Grundsätzlich sind Apps wie kleine Computerprogramme, meist jedoch mit eingeschränkten Funktionen. Täglich werden neue Apps ent- wickelt und verbessert, und in regelmäßigen Abständen stellen die Entwickler Updates bereit, um Fehler zu beheben oder eine bessere Bedienbarkeit sicherzustellen.

Ohne App ist der Mensch nichts

Ach, die Schweizer! „... die nicht zwingend installiert werden müssen“ und „... finanzieren sich größtenteils über Werbung, die bei der Verwendung der App eingeblendet wird“, schreiben sie. Obwohl sonst nicht von gestern, liegen sie mit diesen Aussagen weit zurück. Möchte man ein Smartphone oder ein Tablet über die engen Grenzen des Betriebssystems hinaus nutzen, dann ist das ohne zahl- reiche Apps nicht möglich. Natürlich muss jeder für sich entscheiden, ob zum Beispiel die Pflanzen-Erkennungs-App „Flora incognita“ wirklich wichtig ist – doch für die elektrische Mobilität in Hamburg mit den Bussen von Volkswagen führt an der „MOIA“-App kein Weg vorbei. Eines ist unstrittig: Jede App erfordert zusätzlichen Speicherplatz und jedes Update tut das natürlich auch. Letztlich führt das dazu, dass die Anwendungen langsamer werden, ja teilweise sogar ihren Dienst versagen. Abhilfe schafft dann eine Neuanschaffung mit mehr Speicherplatz und so weiter und sofort. Und nun auch noch die Deutsche Bahn. Bisher nicht als Speerspitze des Fortschritts bekannt, setzt sie zunehmend auf Digitalisierung. Natürlich mit der App.

„Wer wie ich häufiger mit der Bahn unterwegs ist“, so die frühere Lehrerin Christine Konheiser, „hat gelernt, mit etlichen Schwächen der Bahn mehr schlecht als recht zu leben. Mit der Umstellung der BahnCard von Plastikkarte auf digitale App kommt ein weiteres hausgemachtes Pro-blem hinzu. Ich empfinde den Digitalisierungszwang als völlig überzogen und als ein klares Signal an mich und die ältere Generation, dass wir als Kunden der Bahn nicht wichtig sind. Und mit dem Argument der eingesparten 30 Tonnen Kunststoff macht sich die Bahn nur lächerlich. Meine Note für diese
Leistung: 5!“ Foto: Krause

Das Zauberwort heiß DB Navigator

Die Tagesschau vermeldete: „Millionen Bahnreisende müssen sich ab Mitte des Jahres auf eine Änderung einstellen: Ab dem 9. Juni gibt es die beliebte BahnCard nur noch in digitaler Form, wie die Deutsche Bahn in dieser Woche an ihre Kundinnen und Kunden schreibt. Bereits im Dezember hatte der Konzern das Aus der Plastikkarte verkündet – allerdings noch ohne Gültigkeitsbeginn. Dieser steht nun fest ... 2022 gab es laut Deutscher Bahn mehr als 5,1 Millionen bestehende BahnCards. Davon machte die BahnCard 25 die große Mehrheit aus (knapp 3,8 Millionen). Dahinter folgten die BahnCard 50 mit 1,3 Millionen und die Vielfahrer-BahnCard 100 mit rund 46.400 Plastikkarten.“ Und diese „Rundum-sorglos-Plastikkarten“ wird es weiterhin geben. Alle anderen Nutzer werden sukzessive auf die App umgestellt. Denn das, so die Bahn, ist ein Quantensprung für die Umwelt, werden doch so sage und schreibe 30 Tonnen Plastik eingespart! Doch ganz hartherzig möchte die Bahn dann doch nicht mit ihren Kunden umgehen. Wer über ein digitales Kundenkonto verfügt und der Bahn seine E-Mail-Adresse mitteilt, kann über die keineswegs überall vorhandenen Kundenzentren einen Papierausdruck erlangen. Also keineswegs problemlos.

Cui bono – wem nützt es?

Ausschließlich der Bahn, die Kosten sparen und Daten sammeln möchte. Denn würde sie in ihren Bordbistros von Einweg- auf Mehr-wegbecher sowie weniger Verpackung umstellen, wäre die Kunststoffeinsparung ungleich größer. Eine aktuelle Umfrage des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes ergab folgendes Ergebnis: „64 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger über 16 Jahren finden es ‚eher schlecht oder sehr schlecht‘, wenn sie Bahntickets ausschließlich über das Internet oder Apps buchen können. Besonders kritisch sehen den reinen Online-Verkauf danach ältere Leute. 75 Prozent der Menschen über 50 Jahren halten dies für schlecht. Doch sogar unter den jüngeren 18- bis 29-Jährigen sieht fast jeder zweite Befragte den reinen Online-Verkauf kritisch.“ Und das, obwohl – zumindest nach Angaben der Bahn – heute schon knapp zwei Drittel der Kunden die App für Fahrten mit der Bahn nutzen. Ein Grund zur Skepsis ist, dass mit der vollständigen Digitalisierung auch die Gefahr des Datenmissbrauchs wächst. Der gläserne Mensch lässt grüßen. Denn was einerseits positive Effekte haben könnte, kann in falschen Händen zur ganz konkreten Bedrohung werden. Und dass die Cyber-Kriminalität zunimmt, ist keineswegs eine Fake-News.

Ohne Smartphone oder Tablet ist der Mensch gar nichts

Weltweit, so die Internationale Fernmeldeunion, sind noch 2,7 Milliarden Menschen ohne Computeranschluss, haben also weder ein Smartphone noch ein Tablet. Auch in Deutschland geht das Statistische Bundesamt davon aus, dass rund 3,4 Millionen Bürger zwischen 16–74 Jahren noch nie im Internet waren. Diese Bevölkerungsgruppe wird zunehmend ins Abseits gedrängt, ist offensichtlich nicht nur für die Bahn uninteressant. Denn auch andere Anbieter wie DHL setzen auf die App. Auch hier gibt es eine Entwicklung, die letztlich dazu führen wird, dass Menschen ohne DHL-App zu Kunden dritter Klasse werden. Etliche Restaurants haben bereits der guten alten Speisekarte „Lebewohl“ gesagt und erwarten, dass sich der Kunde digital über ihr Angebot informiert. Der Vorteil für den Gastronomen ist klar – Preisveränderungen oder Veränderungen bei Speisen und Getränken müssen nur noch an einer Stelle eingepflegt werden. Erkennbar „Gestrigen“ wird allerdings fast immer noch eine gedruckte Speisekarte angeboten. Plastikkarten als Mittel der Kundenbindung wie von „Deutschland Card“ oder „Payback“ dürften auch mittelfristig vom Markt verschwinden. Schon heute gehört an vielen Supermarktkassen die Frage: „Haben Sie unsere App“ zur Routine.

Auch im Restaurant heißt der Fortschritt „App“ – wobei das idyllische „Fahrhaus am Streek“ bisher nur in seinem Flyer damit arbeitet.
Vor Ort wird weiterhin die Speisekarte gereicht und köstliches Essen serviert. Foto: Krause

Das sollte man wissen:

Jede App hat neben ihren positiven Seiten – wenn man sie denn nutzen kann und will – den keineswegs von jedem Nutzer gewünschten Effekt eines Datenstaubsaugers. Denn wer Facebook, Google und jede andere App nutzt, zahlt zumindest anteilig mit seinen Daten. Umsonst ist der Tod – das gilt selbstverständlich auch in der digitalen Welt. Denn immer, wenn man das unumgängliche Häkchen bei den Nutzungsbedingungen gemacht hat, gibt man ein Stück seiner Lebens-, Verbrauchs- und Bewegungsdaten frei. Ohne genau zu wissen, in welcher Weise sie genutzt und vor Weiterleitung geschützt werden. War schon vieles bei den Plastikkarten der Kundenbindungsprogramme möglich – die digitale Welt der Apps perfektioniert den möglichen Ge- oder Missbrauch. Der zunehmende „Digitalzwang“ birgt Gefahren, die sich „Big Brother“ nicht einmal erträumt hat. Und er grenzt aus. Nicht nur Alte und Menschen ohne Computeraffinität, sondern auch viele Menschen mit Unterstützungsbedarf. Bei der Digitalisierung bleit, so ist zu befürchten, neben dem Datenschutz auch die Inklusion auf der Strecke. Für wen oder was ist das gut? Nicht umsonst fragten die alten Römer nach dem Nutznießer politischer Entscheidungen, bestimmter Ereignisse, Handlungen oder Verbrechen „Cui bono – wem nützt es?“ Diese Frage ist bei der Nutzung von Apps von zeitloser Aktualität und sollte immer wieder gestellt werden.     

 

F. J. Krause © SeMa

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