Seelische Gesundheit
Wenn die zweite Lebenshälfte anbricht.
Medien und Gesellschaft senden eine klare Botschaft: Wer das halbe Jahrhundert voll hat, gehört noch längst nicht zum alten Eisen. Im Gegenteil, die Ü-50-Jährigen sind fit, leistungsfähig, ihnen steht die Welt offen. Tatsächlich aber lässt altersbedingt bei vielen doch einfach die Kraft nach, vor allem ist das Leben im Umbruch. Das kann an Seele und Körper zehren. Plötzlich sind die Kinder aus dem Haus, die Partnerschaft sortiert sich neu, die ersten körperlichen Zipperlein machen sich bemerkbar, und die Arbeit geht auch nicht mehr so leicht von der Hand. „Viele Menschen glauben dann, nicht mehr gebraucht zu werden, mit den Anforderungen nicht mehr Schritt halten zu können“, erklärt Nina Hinzmann, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.
Die Oberärztin leitet die Tagesklinik für Ältere der Asklepios Klinik Nord. Ihre Kollegin Bettina Koch, ebenfalls Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberärztin an der Sozialpsychiatrischen Tagesklinik 55+ am Asklepios Klinikum Harburg, spricht von einer „Erschütterung des Selbstbildes“. Der Umbruch, der die Lebensphase ab 50 Jahren mit sich bringt, hinterlässt bei vielen eine große Ratlosigkeit, eine Leere, die sie resignieren lässt, zu Depressionen, Angst- und Panikstörungen führen kann. „Vielen fehlen die Aufgaben, geliebte Menschen wie die Kinder nach dem Auszug oder die Partnerin oder der Partner nach dem Tod sind plötzlich nicht mehr da, die Struktur fehlt“, führt Koch weiter aus. Das führt bei einigen Menschen zu Antriebslosigkeit, sie ziehen sich zurück, vernachlässigen sich und ihre sozialen Kontakte, fühlen sich von der Welt alleingelassen und überfordert. Hinzu kommen körperlichen Einschränkungen oder auch Überlastungen. „Ein Alarmsignal ist, wenn bei diesen Menschen die normalen Erholungsmechanismen nicht mehr funktionieren“, erläutert Koch. Das kann zur totalen Erschöpfung, aber auch zu schädlicher Selbst-Überforderung führen.
Alte Muster aufbrechen
Die Symptome ähneln psychischen Erkrankungen in jedem Alter und Lebensab- schnitt, doch die Themen sind andere. „Bei diesen Menschen geht es um eine Bestandsaufnahme, eine Reflexion des bisherigen Lebens und um eingespielte Muster und Verhaltensweisen, die sich über viele Jahrzehnte verfestigt haben“, erklärt Dr. Daniel Schöttle, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit am Klinikum Harburg, an das die dortige Tagesklinik angebunden ist. Genau diese Idee steckt hinter den Angeboten, die sich speziell an Menschen in der zweiten Lebenshälfte richten.
Zwischen sechs und acht Wochen dauern die Behandlungen in den Tageskliniken, für die der Einstieg extrem niederschwellig ist. In der Tagesklinik für Ältere an der Asklepios Klinik Nord etwa gibt es eine Telefonsprechstunde, in der eine Ersteinschätzung erfolgt und dann gegebenenfalls eine Überweisung des behandelnden Haus- oder Facharztes für die Therapie in der Tagesklinik notwendig werden kann. Harburg bietet wöchentlich eine Informationsveranstaltung an, bei der Mitarbeitende das Behandlungskonzept und den allgemeinen Therapieverlauf vorstellen. Anschließend erfolgt eine Indikationsstellung. Für die Aufnahme in die Tagesklinik ist dann ebenfalls eine Einweisung des behandelnden Arztes notwendig.
Gemeinsames Reflektieren hilft
Primär erfolgt die Therapie in Gruppenangeboten. „Wir sehen immer, wie gut es unseren Patientinnen und Patienten tut, wenn sie feststellen, dass sie mit ihren Sorgen und Ängsten nicht allein sind und es anderen Menschen ähnlich geht“, erzählt die Psychiaterin Hinzmann. Es sind jedoch nicht nur Gespräche, in denen die Patient:innen zunächst eine Bestandsaufnahme machen, Verhaltensweisen erkennen und versuchen, Muster aufzubrechen, auch ganz praktisch führen die Therapeut:innen sie an neue Strukturen und Routinen heran. So umfassen die Angebote auch Sport wie Walken oder Yoga, das Erlernen von Entspannungstherapien, das Training sozialer Kompetenzen sowie der kognitiven und kommunikativer Fähigkeiten, Schlafmedizin, Ernährungsberatung, Sozialberatung, Paar- und Familiengespräche. „Uns ist es wichtig, auch die Angehörige miteinzubeziehen, um das Verständnis füreinander zu fördern und auch gemeinsame oder konfliktanfällige Verhaltensweisen zu erkennen“, sagt Hinzmann.
Gewappnet für die zweite Lebenshälfte
Hinzu kommt die sogenannte Psychoedukation. „Unsere Patientinnen und Patienten sollen auch ein Wissen über die eigene Krankheit erlangen, um dann Expertin, Experte für die eigene Krankheit zu werden“, fügt die Psychiaterin und Psychotherapeutin Koch hinzu. Sie spricht von einem „besser gefüllten Rucksack“, mit dem sie ihre Patientinnen und Patienten nach der Therapie wieder in den Alltag entlässt. Sanft macht das die teilstationäre Behandlung möglich, weil die Patient:innen das Erlernte gleich am Nachmittag und an den Wochenenden zu Hause in der gewohnten Umgebung erproben können.
„Ich bin immer wieder fasziniert, wenn am Ende unserer Behandlung die Menschen wieder voller Selbstbewusstsein und Tatendrang in ihr gewohntes Leben und oft auch in den Job zurückkehren, von dem sie glaubten, ihn nie wieder ausüben zu können“, sagt Koch. Ihr Ansporn und der ihres Teams: den Menschen neue Per-spektiven eröffnen und ihnen das Rüstzeug für die zweite Hälfte des Lebens mit auf den Weg zu geben.
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https://gesundleben.asklepios.com/gesund-werden/therapie-und-nachsorge/altersdepression/
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