Mehr als Knacken und Knirschen
Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) ist eine weit verbreitete Funktionsstörung des Kau- und Kiefersystems. Dr. med. dent. Hamide Farshi hat sich dieser Volkskrankheit gewidmet und aus ihrer Erfahrung heraus ein Buch geschrieben, das sowohl Patientinnen und Patienten als auch diejenigen, die vorbeugen wollen, aufklärt und Tipps zur Vermeidung gibt. Ein Ratgeber, der klar verständlich und mit erklärenden Bildern die CMD anschaulich aufbereitet.
Das SeMa sprach mit der Autorin über Symptome, Behandlung und die Möglichkeit, selbst etwas zu tun.
SeMa: Was sind die ersten Symptome einer CMD?
Farshi: Die vier hauptsächlichen und grundsätzlichen Symptome der CMD sind einfach und immer gleich. Ich kenne keinen einzigen Patienten, auf den sie nicht zutreffen. Die meisten Patienten leiden unter mehreren, wenn nicht sogar allen vier Hauptsymptomen: Schmerzen, Funktionsstörungen, Missempfindungen, Ohr- und Kiefergeräuschen. Viele Patientinnen und Patienten sind oft hilf- oder ratlos, weil Sie bereits eine Vielzahl von Arztbesuchen hinter sich haben, weil Sie trotzdem immer wieder Kopfschmerzen haben, immer noch unter Schwindel leiden, weiterhin regelmäßig von Migräne-Attacken geplagt werden oder sogar Taubheitsgefühle in den Händen verspüren. Diese Liste ließe sich fast ins Unendliche verlängern, denn schier unendlich sind auch die weiteren Symptome, mit denen sich eine CMD ihren Weg durch den Körper bahnt.
SeMa: Wer Zahnersatz hat, kann seine Zähne durchs Knirschen doch nicht mehr schädigen, oder?
Farshi: Auch Zahnersatz, selbst wenn er aus Keramik oder Metall ist, kann durch Knirschen und Pressen geschädigt werden. Im besten Falle geht dadurch „nur“ der eingesetzte Zahnersatz kaputt und muss dann nach einer gewissen Zeit ersetzt werden. Das verursacht vor allem Kosten. Wenn sich allerdings der Biss dadurch verändert, können die Folgeschäden mittel- bis langfristig erheblich sein. Wir haben dann wieder einen typischen Auslöser für eine CMD.
SeMa: Welche körperlichen Schäden können durch eine CMD auftreten?
Farshi: Das ist sehr unterschiedlich und vor allem sehr bemerkenswert, da die möglichen Symptome häufig nicht nur direkt am Kiefer auftreten, sondern oft auch an Stellen, die man überhaupt nicht mit dem Kiefer in Zusammenhang bringen würde. Oder können Sie sich vorstellen, dass zum Beispiel ein Blähbauch oder Schmerzen am Knie mit dem Kiefer zusammenhängen?! Ganz typische Symptome sind allerdings Verspannungen in der Nackengegend oder auch Ohrgeräusche bis hin zu Tinnitus. Kopfschmerzen oder Migräne treten ebenfalls regelmäßig im Zusammenhang mit einer CMD auf. In meinem Buch beschreibe ich noch weitere Symptome ausführlich, tatsächlich ist das sehr unterschiedlich.
SeMa: Wie läuft die Diagnostik in Ihrer Praxis ab?
Farshi: Grundsätzlich gilt bei allen Erkrankungen und Beschwerden, dass die richtige Diagnose die Grundvoraussetzung für eine wirksame Behandlung ist. Viele meiner Patientinnen und Patienten kommen mit einer zum Teil über Jahre andauernden Schmerz- und Behandlungs-Historie bei diversen Spezialisten zu mir. Das Problem: Keiner hat die Ursache, in diesem Falle eine CMD, erkannt und diagnostiziert, wodurch lediglich die Symptome behandelt wurden, nicht aber die Ursache. Wenn Patienten zu mir kommen, führe ich zunächst ein sehr ausführliches Gespräch mit ihnen über die Art der Beschwerden, seit wann sie bestehen und bei welchen Gelegenheiten diese mehr oder weniger auftreten. Es ist ein sehr intensives Gespräch, bei dem ich mir viele Notizen mache. Danach erfolgt die klinische Untersuchung, angefangen mit einem digitalen 3D-Scan der Zähne, bis hin zu einem Ganzkörperscreening, um die Statik des Körpers genau zu erfassen. Nach rund einer Stunde kann ich dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Diagnose stellen, ob die Ursache im Kiefer liegt und eine CMD-Behandlung Sinn macht, oder aber ob der Schuh woanders drückt und Kollegen aus anderen Fachrichtungen die richtige Adresse sind.
SeMa: Wie kann man CMD behandeln?
Farshi: Wenn eine CMD diagnostiziert wurde, folgen im Rahmen der Behandlung in der Regel zwei Schritte: Zunächst beginnt die Therapie mit der Anfertigung einer individuellen, so- genannten COPA-Schiene. COPA steht dabei für Craniomandibuläre-Orthopädische-Positionierungs-Apparatur. Mit einer solchen Schiene wird der Biss innerhalb von fünf bis acht Monaten in die richtige Position und die Körperstatik dadurch ins Lot gebracht. Bereits nach einer sehr kurzen Zeit spüren die meisten Patientinnen und Patienten eine deutliche Verbesserung der Symptome. Während der Behandlung wird die Schiene alle drei bis vier Wochen angepasst, wodurch sich der Biss nach und nach in die gewünschte Position verändert. Ist der Biss in der richtigen Position, geht es darum, den Behandlungserfolg langfristig zu manifestieren, denn wer möchte schon für den Rest seines Lebens eine Zahnschiene tragen?!
SeMa: Kann ich selbst etwas dafür tun, eine CMD zu verhindern?
Farshi: Da ein sehr häufiger Auslöser für eine CMD Stress ist, hilft es natürlich, diesen Stress zu reduzieren. Das ist allerdings viel leichter gesagt als getan und oftmals nicht so ohne Weiteres möglich. Bemerkt man aber, dass man mit den Zähnen knirscht oder auch stark presst, ist der erste sinnvolle Schritt, eine so- genannte Knirscher-Schiene anzufertigen. Diese ist mit einer COPA-Schiene nicht vergleichbar, schützt allerdings die Zahnsubstanz vor Abrieb. Eine präventive Behandlung der Kaumuskulatur mit Botulinumtoxin (Botox) kann ebenfalls Entlastung schaffen und einer CMD vorbeugen. In meinem Buch beschreibe ich auch einige Übungen, die man in den Alltag einbauen kann und die ebenfalls eine positive Wirkung zur Prävention bzw. bei einer bestehenden CMD haben.
SeMa: Danke für das Gespräch
Stephanie Rosbiegal © SeMa
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