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Krimi-Serie (Teil 9)

Die vielen Tode des Hauptmanns Berthold! Beim Kapp-Putsch kam es 1920 in Harburg zu einem Massaker und einem Meuchelmord.

Nach der Belagerung der Heimfelder Mittelschule wurde Rudolf Berthold in eine Gaststätte gebracht und anschließend in der Nähe erschossen.

Zeichnung: Uwe Ruprecht © stahlpress

Nackt und blutüberströmt, die Kehle durchschnitten, den verkrüppelten Arm ausgerissen oder buchstäblich zertreten: Die Legende lässt den 28-jährigen Rudolf Berthold viele grausige Tode sterben. Scheußlich war sein Ende, aber anders als in Büchern, Broschüren und auf Dutzenden Websites dargestellt.

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren von Gewalt geprägt: Serienmörder gingen um, kleine Einbrecher trugen Knarren, Parteisoldaten lieferten sich Straßenschlachten. Oft war kaum zu unterscheiden zwischen kriminellen und politischen Motiven. Den Mord an Rudolf Berthold konnte die Justiz auch nach mehrjährigen Ermittlungen nicht aufklären und keinen Täter namhaft machen.

Der 15. März 1920 ging als „Harburger Blutmontag“ in die Geschichtsbücher ein: ein Putschversuch, ein Massaker und ein Meuchelmord. 17 Menschen starben bei Kampfhandlungen, neun wurden ermordet. Es gab Tausende Zeugen, von denen Polizei und Staatsanwaltschaft Hunderte nur zu einem, dem letzten Ereignis, vernahmen, dem Tod des Hauptmanns der Putschisten. Mit 44 Abschüssen zählte Rudolf Berthold zu den „Fliegerhelden“ des Weltkriegs. Aus seinem letzten Luftkampf ging er mit zerbrochenen Gliedern und zerschossenem rechten Arm hervor. Ein Korsett hielt seinen Körper zusammen, ohne Morphium überstand er die Tage nicht. Berthold setzte den Krieg fort, als Anführer des Freikorps „Eiserne Schar“, das sich dem Putsch anschloss, den der Regierungsbeamte Wolfgang Kapp für drei Tage anzettelte. Neben Berlin und dem Ruhrgebiet konzentrierten sich die Kämpfe auf Hamburg.
Bertholds Truppe sollte in Kehdingen an der Unterelbe bei der Landarbeit helfen, als der Umsturzversuch begann. 600 Mann stiegen in Hausbruch aus dem Zug, den sie in Stade gekapert hatten, um das „rote Harburg“ einzunehmen. „Wer uns nicht liebt, soll sterbend unterliegen!“ Singend marschierten sie zur Mittelschule in Heimfeld und quartierten sich ein. Sofort wurden sie von der „Einwohnerwehr“ belagert – einer tausendköpfigen Menge, die vom örtlichen Bataillon der Reichswehr mit Waffen versorgt worden war. Erst fanden Verhandlungen statt, bei denen Honoratioren wie der Harburger Oberbürgermeister ebenso mitredeten wie ein vorbestrafter Bootsmann. Dann schoss man mit Maschinengewehren aufeinander. Nach 18 Stunden Belagerung gab Berthold endlich auf.

In der Kaserne am Schwarzenberg (heute Technische Universität) wurde die Einwohnerwehr mit Waffen versorgt.

Foto: stahlpress

Den Putschisten wurde freier Abzug zugesichert. Aber als sie vor die Schule traten, fielen Schüsse. Der entfesselte Mob erstach, erhängte oder trat acht von Bertholds Männern zu Tode. Der Legende nach starb Rudolf Berthold in diesem Tumult. Er „entriss einem Matrosen die Pistole, schoss ihn nieder, sie stürzten sich auf ihn, ein Messer gleißte, zerschnitt ihm die Kehle. Langsam verröchelte er, einsam, kämpfend, in den Kot getrampelt“. Oder er wurde, im Internet bevorzugt, „erwürgt mit seinem Blauen Max“, seinem Orden „pour le Mérite“. Das Sektionsprotokoll vermerkte weder einen ausgerissenen Arm noch eine durchschnittene Kehle, vielmehr Schüsse in Kopf, Brust und Bauch. Die passten zum Tatablauf, soweit ihn die Staatsanwaltschaft belegen konnte. Berthold kam nicht beim Massaker an der Mittelschule um, sondern mehr als drei Stunden später, ein paar Hundert Meter entfernt.

Er wurde in eine Gastwirtschaft geschleppt. Fünf bis sieben Mann stellten im Hinterzimmer ein Verhör mit ihm an. Die schriftliche Erklärung, die Berthold in seinen letzten Stunden abgepresst wurde, tauchte nie auf. Hatte man vor, ihn freizulassen, um sie politisch einzusetzen? Die etwa 50 Mann, die sich in der Gaststube drängten, kamen dem zuvor. Ungeduldig geworden, stürmten sie in das Hinterzimmer, um Berthold zu lynchen. „Kinder, macht mit mir, was ihr wollt“, soll der noch gesagt haben, als sie über ihn herfielen. Mit „Kinder“ sprach er auch seine eigenen Leute an. Er wurde auf die Straße getrieben und mit Gewehrkolben geschlagen. Jemand richtete seine eigene Pistole auf ihn. „Nicht schießen“, rief ein anderer – vom Pflaster könnten die Kugeln abprallen. Also zerrte man Berthold zu einem Sandplatz mit Wäscheleinen zwischen Wohnblocks. Es war nach 21 Uhr und stockdunkel. „Er wurde dann weiter in der rohesten Weise misshandelt“, schrieb der Staatsanwalt; „man trat mit Füßen auf ihm herum, schlug und stieß ihn; andere riefen, man solle ihn noch leben lassen, der müsse noch gepiesackt werden! Schließlich schoss man auf ihn.“

Die Leiche wurde zurück in die Gastwirtschaft gebracht und geplündert: „Seine Mörder teilten sein Geld.“ In dem Punkt stimmt die Legende beinahe. Ein Dieb wurde dingfest gemacht, aber er gehörte nicht zu den unerkannt gebliebenen Mördern.     

 

Volker Stahl © SeMa

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