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Krimi-Serie (Teil 8)

Säuglingsmord in Serie! Die Hebamme Elisabeth Wiese starb 1905 unter dem Fallbeil

In der Hein-Hoyer-Straße befand sich der Tatort der Kindermorde, die Wohnung von Elisabeth Wiese.
Foto © stahlpress Medienbüro

„Sie machte ganz den Eindruck einer Hexe, mit der man Kinder graulich machen konnte.“ Hugo Friedländer, der bedeutendste Gerichtsreporter des Kaiserreichs, der aus Berlin angereist war, zeichnete zum Prozess das Porträt eines „entmenschten Weibes“. Die 54-jährige Elisabeth Wiese war im Oktober 1904 angeklagt, in ihrer Wohnung in der heutigen Hein-Hoyer-Straße fünf Säuglinge ermordet zu haben.

Leichen gab es nicht. Die Staatsanwaltschaft nahm an, dass Bertha, Wilhelm, Peter, Franz und ein namenloses Neugeborenes vergiftet und verbrannt worden waren. Vergiftet mit Morphium, über das die Angeklagte zur vermuteten Tatzeit 1903 verfügte. Verbrannt im Küchenofen, bis die Herdplatte zersprang.

„Das Fehlen von Findelhäusern in Deutschland hat schon so manchem kleinen Wesen das Leben gekostet“, vermerkte Friedländer über den sozialen Hintergrund des Verbrechens. Überforderte ledige Mütter, die ihren Nachwuchs umbringen, gab es immer. Und als Strafe erwartete sie lange Zeit der Tod. Berühmt wurde Susanna Margaretha Brandt, die 1772 in Frankfurt am Main hingerichtet wurde, und die der seinerzeit dort als Rechtsanwalt praktizierende Goethe als Vorbild für sein „Gretchen“ nahm.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Wien eine Einrichtung geschaffen, in der Schwangere aus den gehobenen Kreisen „unter Maske“ gebären konnten und nachher das Kind gegen einen Pauschalbetrag quasi an die Stadt verkauften; „eingezahlte Kinder“ hießen diese dann.
Manche Magd, deren Mutterschaft ihre Entlassung nach sich zog, gebar heimlich und brachte ihr Kind „um die Ecke“. Wie die 19-jährige Marie Offermann, die am Rand des Gutshofs in Stade, wo sie arbeitete, über einem Graben gebar, in den das Kind rutschte. Das Gericht ließ mildernde Umstände gelten und verurteilte sie zu nur drei Jahren Gefängnis.

Die Hebamme Elisabeth Wiese hatte Berufsverbot erhalten, weil sie als „Engelmacherin“ erwischt worden war. Die Aufnahme von Pflegekindern gegen eine Vermittlungsgebühr und monatliches Kostgeld wurde ihr neues Gewerbe. Den Müttern erzählte die „Hexe“ Märchen: Die Kinder kämen nach Wien oder London, um von Fürsten oder Grafen adoptiert zu werden. „Die Kinder werden in Seide gebettet“, sie lebten in einem Schloss, und „es fehle ihnen nichts weiter als das Himmelreich“. Dort seien sie schon, besagte die Anklage.

Für den Mord an fünf Kleinkindern wurde Elisabeth Wiese 1905 hingerichtet. Zeichnung: Uwe Ruprecht © stahlpress Medienbüro

Unklar war, wie viele Kinder bei Elisabeth Wiese „eingezahlt“ wurden. Vor Gericht ging es um die vier, von denen die Behörden wussten und die nicht zu finden waren. Erst wollte die Angeklagte nie etwas von den Kindern gehört haben, dann gestand sie immerhin, sie zu kennen. Drei seien wohl auch tot, behauptete sie schließlich. Zwei, die sie beseitigt habe, seien einer anderen Frau zur Pflege anvertraut gewesen. Eines hätte ihr Ehemann getötet, nachdem er sich an ihm vergangen habe.

„Angeklagte“, fiel ihr der Richter ins Wort, „ich habe schon viel gehört, dass aber ein erwachsener Mensch ein zwei Monate altes Kind sittlich missbraucht, habe ich noch nicht gehört.“

„Es ist aber wahr. Mit mir hat er ja dieselben Unsittlichkeiten vornehmen wollen.“
Kesselschmied Heinrich Wiese beschuldigte stattdessen seine Gattin, sie habe ihn mit Gift und Rasiermesser umbringen wollen. Doch das glaubten die Geschwore-nen nicht und sprachen seine Frau von der Anklage des Mordversuchs frei.

Der fünfte Mordvorwurf betraf ihr eigenes Enkelkind. Elisabeth Wiese hatte ihre uneheliche Tochter Paula zur Prostitution gezwungen, sowohl auf der Straße als auch „Inseratenstrich“ per Zeitungsannonce: „Eine junge Dame bittet einen edel denkenden Herrn um 30 Mark Unterstützung gegen dankbare Rückzahlung.“

Im Sommer 1902 entband die Mutter die Tochter und ließ das Kind verschwinden. Kurz nach der Geburt beobachtete ihre Untermieterin Elisabeth Wiese am Herd. „Ich verbrenne die Nachgeburt von Paulas Kind“, erklärte sie.

Kohlenreste bringen Glück, glaubte sie, ebenso wie Rinderblut und Blut von weißen Tauben. Glück in der Lotterie, für das Elisabeth Wiese betete und opferte. Sie gab auch vor, mit Geistern zu verkehren. Ob die Gier nach Geld ihr einziges Motiv war oder die Kinder noch anderen Zwecken dienten, wurde nicht ausgeforscht. Kein Psychologe befragte die Serienmörderin.
Frauen morden seltener in Serie als Männer, aber nicht weniger scheußlich. Bei den Blutorgien der Gräfin Erzsébet Bàthory in den Kaparten wurden bis 1610 unzählige junge Frauen geschlachtet. Die fürchterlichste Serienmörderin der deutschen Kriminalgeschichte wütete in Bremen: Zwischen 1813 und 1828 vergiftete Gesche Gottfried 15 Menschen mit Arsen, darunter ihre Eltern und Kinder.

In Hamburg debattierte man erbittert darüber, ob man eine Frau hinrichten dürfe. Die Mehrheit war dafür. Noch als sie am 2. Februar 1905 auf die Guillotine gelegt wurde, beteuerte Elisabeth Wiese ihre Unschuld: „Ich habe keine Kinder umgebracht!“

 

Volker Stahl © SeMa

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