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Krimi-Serie (Teil 6)

Die Kunst endete mit Mord. Die „Maskentänzer“ Lavinia Schulz und Walter Holdt starben im Elend!

Auf dem Dachboden des Museums für Kunst und Gewerbe wurden die Ganzkörpermasken von Schulz und Holdt 1988 entdeckt.

Foto © stahlpress Medienbüro

Bei einer Probe der „Kampfbühne“ kam es zu echten Tätlichkeiten. „Beide wälzten sich auf dem Boden, und schließlich wurde Lavinia von Walter an den Haaren durch die Aula geschleift.“ So erinnerte sich 45 Jahre später in seiner Autobiografie der Theaterleiter Lothar Schreyer. Lavinia Schulz und Walter Holdt waren ein Liebespaar. Die authentische Szene auf der Bühne erscheint im Nachhinein wie ein Vorspiel zum Ende ihrer Beziehung.

Die am 23. Juni 1896 in der Lausitz geborene Lavinia Schulz ging mit 16 Jahren nach Berlin, um Grafik zu studieren. Sie lernte Herwarth Walden kennen, den Ehemann der Dichterin Else Lasker-Schüler, der in der Zeitschrift „Sturm“ und auf der „Sturmbühne“ den Expressionismus in Kunst und Literatur propagierte. Lavinia wurde Tänzerin. Mit Lothar Schreyer, der als Dramaturg am Hamburger Schauspielhaus gearbeitet hatte, kam sie an die Elbe.

Lavinia schrieb über sich: „Seit dem 17. Jahr empfinde ich mein Leben nur wie ein Fegefeuer, wann werde ich durch sein?“ Schreyer nannte den Umgang mit ihr eine „harte Nervenprobe“. Sie stellte wilde Gefühle nicht nur dar, sie lebte den Expressionismus. Bei der „Kampfbühne“ begegnete sie im Herbst 1919 dem am 20. Dezember 1899 geborenen Kaufmannssohn Walter Holdt. Sie küssten und sie schlugen sich.

Ihre „exzentrischen Ausbrüche“ führten zum Zerwürfnis mit Schreyer. 1920 machten sie sich als „Maskentänzer“ selbstständig: So stand es auf einem Briefkopf. Ihre Adresse war Besenbinderhof 5, Parterre: ein Zimmer, Toilette im Treppenhaus, kein warmes Wasser. Sie schliefen in Hängematten. Dort stellten sie die „Ganzkörpermasken“ her, in denen sie auftraten. Die grotesken Gebilde aus Sackleinen und Pappmaché, die mit Gips, Draht und Teer verbunden waren, manche über 40 Kilo schwer, trugen Namen wie „Skirnir“, „Toboggan“ oder „Kipplefips“. Auf dem Kopf von „Technik“ war ein Modell der Elbbrücken, das sich bei jedem Schritt hin- und herbewegte.

Die Maske „Technik“, Lavinia Schulz als Engel und ihre Tanzschrift „Vier Sätze der toten Frau“.

Zeichnung: Uwe Ruprecht © stahlpress Medienbüro

Ihre Auftritte erregten Aufsehen, brachten aber nichts ein. Weil sie es so wollten. Sie lebten für ihre Kunst, aber nicht von ihr. „Man kann Geistiges nicht für Geld verkaufen“, schrieb Lavinia Schulz. „Geist und Geld sind zwei feindliche Pole, und wenn man Geistiges für Geld verkauft, so hat man den Geist an das Geld verkauft und den Geist verloren.“ Weil der Geist nicht die Miete zahlte, nähte Lavinia Kleider. Walter half im Geschäft seines Vaters aus und trat als Schlagzeuger mit einer Jazzband auf.

Aus heutiger Sicht befremdlich liest sich „Vier Sätze der Toten Frau“, eine „Tanzschrift“ von 1921, in der Lavinia ein eigenes Notationssystem für ihre Bewegungen entwickelte: „Wir sind Menschen arischer Rasse. Wir sind uns über unsere Rasse klar. Unser geistiges Urbuch ist die Edda. […] Ich bin typisch deutsch, und deutsch im Sinne von ‚arisch‘ ist ganz aus der Mode gekommen. Kein Volk der Erde hat seine geistige Eigenart so verloren wie das deutsche Volk!“
1921 nahm das Paar einen Untermieter auf, den Pianisten und Komponisten Hans Heinz Stuckenschmidt, der sich später als Wissenschaftler und Kritiker einen Namen machte. Er steuerte Musik zu ihren Tanzdarbietungen bei. Ihrer Armut zum Trotz heirateten Lavinia und Walter am 30. August 1921. Als im Sommer 1923 der Sohn Hans Heinz geboren wurde, zog der Namenspate aus. Der befreundete Maler Emil Nolde übernahm einen Teil der Miete.
Ihre Misere dauerte fort, sie hungerten. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Lavinia zu Stuckenschmidt gesagt: „Entbehrung, Hunger, Kälte, nordische Landschaft mit Sturm, Eis und Katas-trophen: Das sei ihre Welt, und darin habe sie sich mit Holdt gefunden.“ Walter verfiel in Depression, Lavinia wurde paranoid.

Morgens um sieben, am 18. Juni 1924, hielt Lavinia dem schlafenden Walter eine Schusswaffe an den Kopf und drückte zwei Mal ab. Dann lief sie zu den Nachbarn, rief, sie habe ihren Mann getötet und werde sich selbst umbringen, kehrte in die Wohnung zurück und schoss sich selbst in den Kopf. „Frau Holdt wurde in bedenklichem Zustand ins Krankenhaus St. Georg gebracht“, meldete eine Zeitung. Sie starb am nächsten Tag. Ihr Sohn lag unversehrt neben dem toten Vater.

Einen Abschiedsbrief gab es nicht. Gegen einen „Doppelselbstmord aus Not“, einen verabredeten Freitod, spricht, dass Walter schlief, als er getötet wurde. Damit erfüllt Lavinias Tat das Mordmerkmal der Heimtücke, und sie beging also auch keinen Totschlag, wie es zuweilen heißt.

Nach einer Gedenkveranstaltung 1925 im Museum für Kunst und Gewerbe wurden die Masken auf dem Dachboden verstaut und vergessen. Erst 1988 entdeckte man sie wieder. Seit einer Sonderausstellung 1997 werden zehn von ihnen dauerhaft präsentiert. Am Besenbinderhof erinnert eine Tafel an Lavinia Schulz. Sie ist die einzige Mörderin, der in Hamburg auf diese Weise gedacht wird.      

 

Volker Stahl © SeMa

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