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Krimi-Serie (Teil 3)

Sein Geschäft war die Haardiagnose! Der Betrüger profitierte von einer „Vertrauenskrise zur ärztlichen Wissenschaft“.

Im gelben Haus (links) in der Brüderstraße eröffnete Ernst Buchholz seine erste Praxis in Hamburg.
Foto © stahlpress Medienbüro

„Die Dummen werden nicht alle“ hieß ein Stück, mit dem 1894 ein Hamburger Theater den Rummel in Radbruch bei Winsen an der Luhe auf die Schippe nahm. Sonderzüge hielten im Dorf, die internationale Presse berichtete. Der Schäfer Heinrich Ast betätigte sich als Wunderheiler. Indem er die Nackenhaare seiner Kunden mit einer Lupe studierte, fand er angeblich heraus, woran sie litten.

Dann gab er ihnen den nach einem Geheimrezept seiner Ahnen hergestellten „Jerusalembalsam“, den er vom Apotheker in Winsen bezog. Bezahlung forderte er nicht, ließ sich jedoch beschenken. Seine jährlichen Einnahmen beliefen sich auf 120.000 Reichsmark, damit war er nach heutigen Maßstäben Millionär. Also tat ihm die Geldstrafe, zu der er 1895 verurteilt wurde, nicht weh. Er hatte sich strafbar gemacht, weil er seine Tinktur selbst verteilte. Künftig schickte er die Gläubigen zum Apotheker, dessen Vermögen bald derart anwuchs, dass er sich ein neues Haus in der Winsener Innenstadt bauen konnte.

Der durchschlagende Erfolg der Haardiagnose machte Schule. Einer, der seine „Heilkunst“ vom Schäfer Ast selbst erlernt haben wollte, war der Onkel von Ernst Julius Buchholz. Er gab sein Wissen an seinen am 5. August 1897 in Warstade im heutigen Kreis Cuxhaven geborenen Neffen weiter.

Zwei Jahre nach dem Tod von Heinrich Ast 1921 eröffnete Ernst Buchholz eine Praxis für Haardiagnose in Hamburg. Um nicht wie der Meister mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, verwies er für Medikamente an die Apotheke und forderte kein Honorar. Die Kundschaft entlohnte ihn jedoch freiwillig reichlich.

Bis zu 400 Menschen standen vor der Praxis des Haardiagnostikers in der Danziger Straße an.
Foto © stahlpress Medienbüro

Nach einem bescheidenen Anfang in der Brüderstraße beim Großneumarkt verlegte er sein Geschäft nach St. Georg in die Danziger Straße. Täglich fertigte er bis zu 400 Menschen ab. Ein paar Straßen von seiner Praxis entfernt in der Gurlittstraße erwarb er ein Wohnhaus.

Mit der Zahl der Diagnosen häuften sich auch die Klagen. Und anders als beim Original nahmen Polizei und Justiz den Haardiagnostiker unter die Lupe. Im September 1924 wurde Buchholz von einem Oberarzt der Universitätsklinik Eppendorf getestet. Vier Mal legte dieser ihm die Haare einer an Lungentuberkulose gestorbenen Frau vor, vier Mal gab Buchholz falsche Einschätzungen ab. Ein paar Monate später stand er wegen fahrlässiger Körperverletzung vor Gericht, weil eine von ihm verordnete Salbe eine Geschwulst erzeugt hatte. Er wurde mit einer Geldstrafe von 2000 Mark belegt.

Im Herbst 1926 stand Buchholz wegen Betrugs vor Gericht. Ein „bauernschlauer Kopf mit wohlhabenden Falten in Kinn und Nacken“ spottete ein Reporter über den Wunderdoktor. Als Zeugen geladene Kunden stimmten Lobeshymnen auf ihn an. Sein Erfolg gäbe ihm Recht, befand das Gericht. Weil infolge einer „Vertrauenskrise zur ärztlichen Wissenschaft“ Tausende ihm zuliefen, könne er selbst „zu dem Glauben kommen, er verfüge über die von ihm behaupteten Fähigkeiten“. Eine „bewusste Böswilligkeit“ sei nicht festzustellen.

Mit einer Lupe las Ernst Buchholz aus den Nackenhaaren seiner Klienten ihre Krankheiten. Zeichnung: Uwe Ruprecht © stahlpress Medienbüro

Der Freispruch wirkte zunächst wie eine Reklame für Buchholz. Aber die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, und ein erneuter Prozess wurde anberaumt. Diesmal ging das Gericht der Frage nach, ob es überhaupt möglich sei, aus den Haaren auf Krankheiten zu schließen. Im November 1927 begutachtete Buchholz im Krankenhaus St. Georg zwei Stunden lang die Nackenhaare von 63 Menschen, über deren Gesundheitszustand die Ärzte sich einig waren.
Er erkannte weder eine Schwangerschaft im fünften Monat noch eine Syphilis im Endstadium. „Unterleibsleiden“ stellte er fest, wo die Mediziner einen „schweren Nabelbruch“ behandelten. Statt eines Herzklappenfehlers fand er eine „Lungenverschleimung“. Keine einzige seiner Diagnosen stimmte mit dem ärztlichen Befund überein.

Sein Mandant und die Ärzteschaft sprächen eben zwei verschiedene Sprachen, argumentierte sein Verteidiger. Doch dem Gericht reichte es. Der Angeklagte verstünde nichts von Anatomie oder Physiologie und habe keinen Schimmer der Kenntnisse, „derer er sich rühmt“. Überhaupt benütze er „nur eine einfache Lupe mit ganz schwacher Vergrößerung“.

Die Geldstrafe von 30.000 Mark hätte Buchholz verschmerzen können. Aber die Zeitungsartikel über den Prozess ruinierten seinen Ruf. Er verlegte sein Geschäft nach Berlin. Zur Absicherung gegen weitere Klagen nahm er sich einen Arzt als Kompagnon.

 

Volker Stahl © SeMa

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