Krimi-Serie (Teil 11)
Die verfluchte Pistole! Mutter und Sohn starben durch Schüsse aus derselben Waffe
Anfangs sah alles nach einem Routinefall aus. Das Krankenhaus informierte die Polizei über eine Schusswunde: ein häuslicher Unfall in der Harburger Innenstadt. Ein Hinweis in der Aussage des Dienstmädchens blieb zunächst unbeachtet. Als sie den Verletzten sah, fragte sie den Hausherrn, was passiert sei. „Die verfluchte Pistole“, antwortete der 49-jährige David Strasser.
Während sein 16-jähriger Sohn Kurt operiert wurde, befragte Kommissar Max Girbig, 46 Jahre alt, den Vater. Kurt sollte eine Heizsonne aus der Abstellkammer holen, erklärte David Strasser. Dabei habe er die danebenliegende Pistole heruntergerissen, und die sei losgegangen. Kurz noch konnte Kommissar Girbig mit Kurt sprechen. Er habe nach der Heizsonne gegriffen, sagte er, dann sei der Schuss gefallen. Mehr konnte er nicht mehr sagen. Er starb noch am selben Tag, dem 30. Oktober 1926.
Unfall also. Der zweite Sohn, der 14-jährige Egon, wurde gar nicht vernommen. Doch dann las Kommissar Girbig das Protokoll eines anderen Unfalls im Hause Strasser, bei dem die Mutter umkam. Als Hilda ihm die Pistole reichen wollte, habe sich der tödliche Schuss gelöst, erzählte David Strasser damals. Nachbarn und die Polizei glaubten an Suizid und beließen es dabei. Die Pistole war dieselbe Mauser, die 20 Monate später den Sohn tötete. Kommissar Girbig glaubte nicht an einen Fluch. David Strasser war ein seltsamer Mensch. Einen Schwätzer, einen „fabelhaften Fantasten“ nannten ihn Bekannte. Exzentrisch, vielleicht etwas irre? Aber mordet ein Wahnsinniger mit Vorbedacht im Abstand von fast zwei Jahren, indem er einen Unfall fingiert?
Kommissar Girbig entdeckte ein vertrautes Motiv: David Strasser hatte Lebensversicherungen für Ehefrau und Sohn abgeschlossen. Bei Unfall wurde das Doppelte fällig. Strassers Schuhgeschäft war pleite, und er war die Wohnungsmiete schuldig. Unlängst hatte er 1800 Mark von der Versicherung kassiert: für einen Brand, den ein heruntergefallenes Feuerzeug ausgelöst haben sollte. Und: Noch am Todestag des Sohnes benachrichtigte der Vater telegrafisch die Versicherung von seinem Verlust.
Einen Haken hatte Kommissar Girbigs Theorie: Begünstigter beim Tod von Kurt war Egon. War etwa ein dritter Unfall geplant? Sachliche Beweismittel fehlten. Auch durch das Unvermögen der Polizei. Eine zweite Pistole kam erst nach Wochen durch einen Hinweis von Egon am Tatort, in der Abstellkammer, zum Vorschein. Ein Büchsenmacher experimentierte mit der Pistole nach Strassers Angaben: eingewickelt in einen alten Schal in einer Damentasche. Beim bloßen Herunterfallen hätte sie sich nie selbst entladen. „Jude – Pole“ klebt auf dem Deckel der Strafakte Strasser im Archiv. Pole ist durchgestrichen. David Strasser war Ungar, lebte seit 26 Jahren in Deutschland. Ein sonderbarer Mensch, aber ein liebevoller Vater, wie alle bestätigten. Am Freitod der Mutter hatte bisher niemand gezweifelt. Hatte sie sich vielleicht sogar für die Familie geopfert? David Strasser wurde verhaftet. Aber er gestand nicht.
Egon war bei Verwandten der Mutter in Worms untergebracht. Kommissar Girbig forschte das Vorleben des Vaters aus und besuchte den Sohn. Bei einem Spaziergang sagte ihm Egon, er denke, „dass sein Vater das selbst gemacht habe“, notierte Girbig. Weil ein Ortstermin vorgesehen war, fand der Prozess gegen Strasser im Sommer 1927 nicht vor dem zuständigen Gericht in Stade, sondern im Harburger Rathaus statt. Egons Aussage war der Schlüsselmoment. „Du brauchst aber nichts davon zu sagen, dass ich schon in der Kammer war“, sollte der Vater ihn beschworen haben, als Egon den Bruder blutend am Boden liegen sah.
„Die 200 Menschen im Saal atmeten nicht“, schrieb Paul Schlesinger, der damals berühmteste Gerichtsreporter, der aus Berlin angereist war, „das Schicksal rauschte mit schweren Flügelschlägen.“ Tatsächlich erinnerte sich Egon erst sehr spät an diesen verhängnisvollen Satz. Er schrieb ihn auf eine Postkarte aus Worms an Kommissar Girbig, nachdem dieser sein Vertrauen gewonnen hatte.
Als Indiz für die Ermordung der Ehefrau diente der Mord am Sohn. David Strasser wurde zum Tode verurteilt. „Trotzdem wird die Vollstreckung nicht empfohlen, weil es sich um einen Indizienbeweis handelt, der, so schlüssig und lückenlos er an sich auch sein mag, doch menschlichen Irrtümern unterliegt“, fand das Gericht. „Dann hätte es eben die Schuldfrage verneinen müssen“, kommentierte Paul Schlesinger.
Eine Hinrichtung ist nicht dokumentiert. In der archivierten Akte fehlen aber auch obligatorische Daten zur Haft. David Strasser verschwindet plötzlich aus dem Blick der Behörde und aus der Geschichte.
Volker Stahl © SeMa
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