Krimi-Serie (Teil 10)
Der Hochstapler heiratete im Michel
Als in Hamburg Hunger herrschte, narrte, ein falscher Fürst die Schickeria
Der junge Oberleutnant der baltischen Landeswehr legte beim Standesamt in der Weidenallee diesen Ausweis vom 20. April 1919 vor, als er das Aufgebot bestellte: „Seine Durchlaucht Siegfried Egor von Schliewen befindet sich auf einer Dienstreise von Libau nach Berlin, Steele, Hamburg, Kolberg und Eiberfeld. Alle Behörden werden gebeten, seine Durchlaucht ungehindert reisen zu lassen und nötigenfalls Schutz und Hilfe zu gewähren.“
Obwohl dienstlich an der Elbe, hatte Amor den Fürsten angeschossen. Am 15. Mai 1919 hatte er sich bei einer Aufführung von „Undine“ in der „Volksoper“ am Millerntorplatz in die Hauptdarstellerin verguckt. Noch am selben Abend machte er mit ihr eine Segelpartie auf der Alster. Er überschüttete sie mit Geschenken, und die 20-jährige Regina Rabeler, die unter dem Namen ihrer Pflegemutter Harre auftrat, ließ sich nicht lange bitten. Am 26. Mai sollte Hochzeit sein, standesgemäß: im Michel.
Am 21. Mai jedoch visitierten Kriminaloberwachtmeister Ramming und Wachtmeister Lehmann den Hochadligen in seinem Logis im Hotel „Europa“ an der Kirchenallee. Auf Plakaten wurde gerade mit 10.000 Mark Belohnung nach einem Kommunistenführer gefahndet, und ein Hoteldiener glaubte, der tarne sich als Fürst von Schliewen. Eine Ähnlichkeit bestand, aber bei der Gegenüberstellung in der „Volksoper“ räumte die Verlobte fast alle Zweifel aus. Der Mann blieb den Polizisten suspekt. Ein baltischer Fürst, der kein Russisch, aber rheinischen Dialekt sprach? Ramming und Lehmann wälzten Steckbriefe. Und da war er: Unteroffizier Jentsch. Der hatte 50.000 Mark aus einer Militärkasse erschwindelt.
Die Fürstenhochzeit mit Opern-Touch im Michel fand noch statt. Die Handschellen, die „Hamburger Acht“, schlossen sich bei der Feier im „Europa“ um die Handgelenke des Bräutigams. Der Fürst war Jentsch und war es auch nicht. Als Jentsch hatte er das Betriebskapital ergaunert, um die Schauspielerin zu verwöhnen. Seine Kasse war allerdings schon erschöpft. Auf der Rechnung von 2934 Mark inklusive Brautkutsche blieb das „Europa“ sitzen.
Der Delinquent hieß Otto Merkel und wurde am 15. Oktober 1891 als Sohn eines Schmieds in Köln geboren. Er war wegen Unterschlagung und Betrugs in zehn Fällen vorbestraft, und er wurde als Deserteur gesucht. Seine kriminelle Laufbahn hatte er dort eingeschlagen, woher sein falscher Adel stammte, im Baltikum, als Angehöriger eines Freikorps. In Königsberg und Kolberg ergaunerte er hohe Summen und setzte sich nach Hamburg ab.
Von wegen, die Hamburger geben nichts auf Orden. Merkel reichte eine schäbige Verkleidung, um elf Tage lang die Sängerin, ihren Anhang und einige Kaufleute zu narren: Der Hausorden derer von Schliewen war der Stern eines gewöhnlichen Kürassierhelms. Während Merkel mit dem Geldadel in der Oper schwelgte, litt die Mehrheit im Nachkriegs-Hamburg Hunger. Zu Neujahr 1919 wurden die Alsterschwäne gegessen. Plünderungen waren an der Tagesordnung. Für Butter floss Blut. Am 23. Juni lief das Fass buchstäblich über.
In der Kleinen Reichenstraße kippte eine Tonne von einem Pferdewagen. Eklige Brühe ergoss sich aufs Pflaster. Darin schwammen Kalbsköpfe und Kuhschwänze: Die Ingredienzen der zu Wucherpreisen verhökerten „Heil’schen Delikatesssülze“. Ein Lynchmob stürmte die nahe gelegene Fabrik von Jacob Heil. Der „Volksbetrüger“ wurde zur Kleinen Alster gezerrt und hineingeworfen. Polizisten retteten ihn – ins Rathaus. „Die Regierung schützt Heil!“, brüllte die Menge, belagerte das Rathaus und besetzte es nach zwei Tagen.
Gleichzeitig wurden die Gefangenen aus der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis befreit. Unter ihnen war Otto Merkel. Der ergaunerte noch 20 Mark von den Aufständischen und tauchte als „Oberleutnant Petzel“ bei der Reichswehr unter, als diese einmarschierte und die Unruhen niederschlug. Die blutige Bilanz der „Sülze-Revolution“: 62 Tote, über 600 Verletzte. Bereits im Juli trat Merkel wieder als „Fürst von Schliewen“ auf. Das musste schiefgehen. Er war am Ende: Bei seiner Verhaftung in einem Gasthof in Bergedorf fuchtelte er mit einem Revolver herum. Zum Prozess vor dem Kriegsgericht amüsierten sich die Zeitungsleser noch einmal über den Hochstapler. Eine heikle Beschuldigung der verratenen Braut wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit erörtert. „Kann gar nicht sein“, widersprach Merkel, „ich habe nie Tripper gehabt“. Er wurde zu drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
Hinzu kamen weitere Verurteilungen für Betrügereien in Frankfurt/Main, die ihm erst nach seiner Verhaftung in Hamburg zugerechnet werden konnten. Seine vorzeitige Haftentlassung wegen guter Führung zum 31. Dezember 1927 war das letzte Lebenszeichen, das die Hamburger Justiz unter dem Namen Otto Merkel registrierte und dem Archiv überlieferte.
Volker Stahl © SeMa
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