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„Was für ein grässlicher Justizmord“

Am „Blutsonntag“ 1932 herrschte Bürgerkrieg in den Straßen von Altona

Stolpersteine für Lütgens, Wolff, Möller und Tesch vor dem Amtsgericht Altona.
Foto: stahlpress Medienbüro

Der Anfang vom Ende der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, begann an einem regnerischen Sommertag in der preußischen Stadt Altona. Reichskanzler Franz von Papen nahm die Ereignisse des 17. Juli 1932, des „Blutsonntags“, zum Anlass für den sogenannten „Preußenschlag“, bei dem die geschäftsführende Regierung des Freistaats durch einen Reichskommissar ersetzt wurde. Damit ging die Staatsgewalt im größten Land des Deutschen Reichs auf die Reichsregierung über und erleichterte später die Zentralisierung unter Adolf Hitler. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht“, soll von Papen geprahlt haben, als er seine Minderheitsregierung durch die NSDAP tolerieren ließ.

Als erstes Zugeständnis an die Nationalsozialisten hatte er das von seinem Amtsvorgänger erlassene Verbot der Sturmabteilung SA und der Schutzstaffel SS am 16. Juni 1932 kassiert. Für den 31. Juli waren Reichstagswahlen angesetzt. Wahlkampf bedeutete buchstäblich Kampf: Die Parteien verfügten über paramilitärische Abteilungen, die aufeinander losgingen, wobei reichsweit 99 Menschen umkamen.

Tafel am Mahnmal für die Hingerichteten hinter dem Amtsgericht Altona.
Foto: stahlpress
Medienbüro

Hamburg hatte rund 1,2 Millionen Einwohner, Altona 300.000. Die Grenze zwischen den Städten war eine Formalie und spielte im Alltag fast keine Rolle. An jenem Sonntag versammelten sich ab 12.30 Uhr über 7000 SA- und SS-Männer zwischen Rathaus und Bahnhof in Altona. Sie wollten im Triumph über das aufgehobene Verbot durch die als „Klein-Moskau“ verschriene Stadt ziehen. Um 15 Uhr marschierten sie los. Gegen 16.30 Uhr erreichten sie bei der Großen Bergstraße die Altstadt. In der eng bebauten Gegend, die im Zweiten Weltkrieg komplett zerbombt wurde, lebten vornehmlich Arbeiter, die überwiegend SPD und KPD wählten.
Am östlichen Ende der Schauenburger Straße, der heutigen Schomburgstraße, kam es zu ersten Schlägereien zwischen Nazis und Anwohnern. Gegen 17 Uhr fielen Schüsse. Die SA-Männer Heinrich Koch und Peter Büddig wurden tödlich getroffen. Die Polizei drängte die Nazis Richtung Bahnhof ab und forderte in Hamburg Verstärkung an, die über die Kleine Freiheit anrückte. Wer die ersten Schüsse abgegeben hatte, wurde nie geklärt.

Der Polizeiführung wurde fälschlich gemeldet, dass auf den Dächern Heckenschützen säßen. Panisch feuerten die Polizisten um sich und verschossen dabei um die 5000 Kugeln. 16 Menschen starben, darunter Anna Raeschke, die der Lärm auf der Straße vom Esstisch an das Fenster ihrer Wohnung gelockt hatte. Ein Kopfschuss streckte sie nieder. Als ihr Sohn sie fand, hatte sie noch ein Stück Brot im Mund. Kein Polizist kam schwerwiegend zu Schaden.
SA- und SS-Leute befanden sich nicht mehr in dem Gebiet. Die Polizei nahm Hausdurchsuchungen vor und verhaftete etwa 90 Personen. Gegen 18.45 Uhr kam es zu weiteren Schießereien, aber bald darauf war laut Polizeibericht „die Ruhe wieder hergestellt.“
„Es erinnert an den Oktoberaufstand von 1923, der für Hamburg das bisher größte Geschehen des Bürgerkrieges in der jungen Repu-blik war“, notierte der „Hamburgische Correspondent“ am nächsten Tag. Am 23. Oktober 1923 hatten Kommunisten unter Ernst Thälmann einen Umsturz versucht. Sie überfielen Polizeiwachen, um sich zu bewaffnen und verbarrikadierten Straßen. Die meisten der mindestens 100 Toten, nämlich 61, waren Unbeteiligte.

Ab Mai 1933 inszenierte das neue NS-Regime Schauprozesse gegen über 100 vermeintlich Schuldige. Am 2. Juni 1933 wurden vier von ihnen, gegen die das Verfahren vor der Machtübernahme noch eingestellt worden war, von einem Sondergericht, das 18 Tage lang im Landgericht Altona verhandelte, zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung von August Lütgens (35), Walter Möller (28), Bruno Tesch (19) und Karl Wolff (22) fand am 1. August im Hof des Gerichtsgefängnisses mit dem Handbeil statt. „Wir unterhalten uns sehr ruhig, die Beamten sind sehr freundlich“, schrieb Bruno Tesch an diesem Tag seiner Mutter. „Ich habe Kuchen und Tabak, alles, was ich mir wünsche. Liebste Mutti, ich bitte Dich, überwinde dies um meinetwillen. Du musst leben bleiben, um meine Unschuld ans Tageslicht zu bringen. Das ist mein letztes Vermächtnis an Dich. Du musst es an den Tag bringen, was für ein grässlicher Justizmord an mir verübt wurde.“

Erst 1992 war es soweit: Das Landgericht Hamburg erklärte die Urteile für Unrecht. Inzwischen hatte der frühere Résistancekämpfer Léon Schirmann die Akten im Archiv in Schleswig durchgearbeitet. Die kommunistischen Heckenschützen beruhten auf einer „Psychose der Polizei“, die für alle Toten verantwortlich war. Im Prozess waren gefälschte Beweise vorgelegt worden. Die Altonaer Exekutionen waren die ersten überhaupt im Dritten Reich. Zwischen 400 und 500 Menschen wurden später im Hof des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis hingerichtet. Die Leichen von Lütgens, Möller, Wulff und Tesch wurden in Berlin verbrannt und die Urnen in Marzahn vergraben. 1947 wurden sie auf dem Ehrenhain für die Hamburger Widerstandskämpfer auf dem Friedhof Ohlsdorf beigesetzt. Ein Mahnmal an der Stelle ihrer Hinrichtung sowie die Namen von Straßen und Parks erinnern an sie.    

 

Volker Stahl © SeMa

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