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Der Paternoster – eine echte Hamburgensie

Trotz seines Verbots vor 50 Jahren gibt es den speziellen Fahrstuhl immer noch

Der Paternoster im Bezirksamt Eimsbüttel dreht sich seit 1953 und wurde 2002 renoviert.

„Menschenschaufler“, „Beamtenbagger“: Der „Personen-Um-laufaufzug“, wie er amtlich heißt, hat viele Spitznamen. Einer hat sich eingebürgert. Er erinnert an die Rosenkranz-Kette, deren Perlen die Betenden durch die Finger kreisen lassen, wie die Kabinen durch die Stockwerke knattern: Paternoster („Vater unser“).

Seit einem halben Jahrhundert darf kein neuer Paternoster mehr gebaut werden, aber dank des Denkmalschutzes haben bundesweit zirka 200 Exemplare überlebt. Räder und Ketten befördern die Fahrkörbe nach einem ursprünglich aus dem Bergbau stammenden Prinzip in einem Tempo von höchstens 0,45 Metern pro Sekunde herauf und herunter. Erfunden wurde der „continuous elevator“ (durchgehender Aufzug) 1876 in London.

Ab 1885 wurde er in Hamburger Kontorhäuser eingebaut. Nachdem 1896 ein preußisches Patent erteilt worden war, verbreitete sich der „Rundtrieb-Aufzug“ im ganzen Kaiserreich. Aber Hamburg blieb die Hochburg. Das vertikale Karussell wurde zu einer „Hamburgensie“.

Ein Schild in der Kabine belehrte: „Wer das rechtzeitige Aussteigen versäumt, kann ohne Gefahr über den Dachboden oder durch den Keller fahren und die gewünschte Stelle wieder abwarten.“ Trotzdem stellte die Baupolizei-Behörde 1901 fest, würden Personen „aus Übermut oder Unverstand“ versuchen, „den Fahrkorb auf dem Dachboden zu verlassen“. Sein „Angstfrühstück“ nennt das ein Rundfunkredakteur in Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von 1955. Allmorgendlich steigt Dr. Murke nicht in „seiner“ Etage aus, sondern fährt ganz oben herum und starrt „voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses“.
Einen Holländer überwältigte am 7. September 1929 die Angst. Als die Decke näher kam, sprang er ab und blieb zwischen Kabine und Verschalung hängen, bis die Feuerwehr ihn heraussägte.

Der Paternoster von 1937 in der Deutschen
Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften am Neuen Jungfernstieg ist nicht mehr in Betrieb.

Im April 1931 urteilte das Oberlandesgericht über den Unfall: Paternoster seien „an sich ungefährlich“. Wer wie der Holländer „in blinder Angst herausspringt, beweist nicht einen Mangel an Geistesgegenwart, sondern einen Mangel an der ruhigen Überlegung, ohne die ein geordneter Verkehr überhaupt nicht denkbar ist“.

Bei einer Debatte in der Bürgerschaft im Dezember 1909 legte der Senat Zahlen vor: 1904 waren 20 Millionen Menschen in Paternostern gefahren; die „Vermehrung der Fahrstühle“ habe die Beförderungsquote auf geschätzte 89 Millionen erhöht. Von 1902 bis 1908 ereigneten sich 89 Unfälle, von denen zehn tödlich ausgingen: „Bei keiner anderen Verkehrseinrichtung dürfte sich ein so günstiges Verhältnis finden.“

Was statistisch „günstig“ aussah, blieb ein „grausames Fahrstuhlunglück“ wie am 11. November 1927, als ein 54-Jähriger starb, weil er „mit dem Kopf zwischen dem Zahnrad und der Kette des Getriebes eingeklemmt“ wurde. Als Hauptrisiko erkannte eine Zeitung 1913 das „eigene Verschulden unvernünftiger junger Leute“, von denen „die Aufzüge zu Spielereien und Turnübungen benutzt“ würden.

Bei Millionen Umläufen blieben Verbrechen nicht aus. Im August 1912 wurden sechs Fälle sexueller Belästigung in einem Paternoster bekannt. Am 26. Oktober 1921 überfiel ein Mann eine Bankangestellte, indem er ihr gemahlenen Pfeffer in die Augen streute, ins Gesicht schlug und eine Aktentasche mit Scheck und Bargeld raubte. Der Brand der hölzernen Kabine trug 1931 ein Feuer durch mehrere Stockwerke. 1936 wurden 344 „Stetigförderer“ in Hamburg gezählt.

Bericht im „Hamburger Tageblatt“ vom 20. Juni 1938.

Die Fahrt in offenen Kabinen „erregt in einem Lande wie Deutschland, wo man gewohnt ist, in allem und jedem die Organe der Aufsichtsbehörden für die persönliche Sicherheit sorgen zu lassen, Verwunderung“, hatte ein Ingenieur bereits 1907 bemerkt. 66 Jahre später befand der TÜV, dass mündigen Bürgern die Benutzung nicht mehr zuzutrauen sei. Die Technik ist perfekt, das Steckenbleiben oder ein Absturz sind ausgeschlossen. Gefährlich ist allein die „unsachgemäße Benutzung“.

Ab dem 1. Januar 1974 gilt ein Neubauverbot für Paternoster. Bis zum 31. Dezember 1994 sollte der Aufzug ganz verschwunden sein. Zum Stichtag waren in der BRD noch rund 400 Paternoster in Betrieb. Die Gnadenfrist wurde bis 2004 verlängert, nachdem auch die rund 110 Anlagen in der ehemaligen DDR vehemente Fürsprecher gefunden hatten. Im Juli 2015 scheiterte ein Vorstoß von SPD-Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, nur noch „eingewiesenen“ Personen die Nutzung zu gestatten und eine Art „Paternoster-Führerschein“ einzuführen. Zwei Monate später bewies der Hamburger FDP-Politiker Burkhardt Müller-Sönksen Unvernunft als Unfallursache: Er wollte sein E-Bike in einen der beiden Paternoster im Bezirksamt Eimsbüttel mitnehmen, wo es sich verkeilte.

Noch existieren in Hamburg 30 Paternoster. Einige sind stillgelegt, die meisten können nur von denen benutzt werden, die in den betreffenden Behörden und Betrieben arbeiten. Beim Umbau des Flüggerhauses am Rödingsmarkt wurde 2018 ein zugemauerter Paternoster entdeckt, dessen Baujahr 1908 ihn zum ältesten erhaltenen der Welt macht. Ob er je wieder fährt, liegt beim Eigentümer, der insolventen Signa-Gruppe von René Benko.

 

Text: Volker Stahl © SeMa/Fotos: © stahlpress Medienbüro

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