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„Ein höchst angenehmer Ort“

Universalgenie Georg Christoph Lichtenberg war 1773 von Hamburg begeistert

Die Schriftsteller Johann Gottfried Herder, Gotthold Ephraim Lessing und Matthias Claudius auf der Dachterrasse des Baumhauses. Foto: gemeinfrei

„Am Hafen liegt ein Gebäude, das das Baumhaus genannt wird, mit einer Galerie oben auf dem Dache, wo- rauf zuverlässig einer der schönsten Prospekte in Deutschland nach dem einstimmigen Zeugnis aller Reisenden ist“, schrieb der 31-jährige Georg Christoph Lichtenberg am 13. August 1773 in einem Brief. Das Baumhaus, so benannt nach dem Schlagbaum, mit dem nachts die Zufahrt zum Hafen verschlossen wurde, stand von 1662 bis zu seinem Abbruch 1857 ungefähr dort, wo sich heute die U-Bahnstation Baumwall befindet.

In dem dreistöckigen Gebäude war außer der Zollverwaltung die Schifferbörse untergebracht, an der Frachtgeschäfte abgewickelt wurden. Außerdem gab es einen Konzertsaal und eine Gastwirtschaft. Die Dachterrasse war ein beliebter Treffpunkt, wo „alle Sekunde ein Mensch vorbeiging, also alle Stunde 3.660 Menschen mit allerlei Gesichtern, Figuren, Absichten“: „eine Geschichte der menschlichen Seele (...) mit einer Art von chinesischen Zeichen geschrieben“, wie Lichtenberg notierte.

Hamburg sei überhaupt „ein höchst angenehmer Ort“, fand er: „Alles Vergnügen, was die größte Mannigfaltigkeit schöner Gegenstände, als die schönsten Gärten in voller Blüte, die unabsehbare Menge von Schiffen aller Nationen, gute Gesellschaft, guter Wein und eine gute Tafel gewähren kann, habe ich diese wenigen Tage, die ich, einige andere ausgenommen, unter die schönsten meines Lebens rechne, genossen.“

Das Baumhaus um 1850 in einer Darstellung von Valentin Ruths. Foto: gemeinfrei

Durch eine Rachitis als Kind verkrüppelt, war Lichtenberg kaum 1,50 Meter groß, mit einem gewaltigen Buckel. Der Nachwelt wurde er als Philosoph der Aufklärung bekannt, als Autor der posthum veröffentlichten „Sudelbücher“, in denen er Einfälle und Beobachtungen festhielt, die als Aphorismen zitiert werden: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal das Buch?“

Er war der erste deutsche Professor für Experimentalphysik. Nach ihm sind durch Elektrizität gebildete Figuren benannt. Zufällig entdeckte Lichtenberg 1778, wie sich der Staub auf einer elektrisch geladenen Platte zu einem baumartigen Muster formte.

Zuerst hielt sich Lichtenberg auf der Durchreise vom 14. bis 18. Mai 1773 in Hamburg auf. Georg III., zugleich König von England und Hannover, mit dem er befreundet war, hatte ihn beauftragt, als Astronom die geografische Lage von drei Städten zu bestimmen, um die Militärkarten verbessern zu können.

Ausgestattet mit Visierinstrument, Magnetnadel, Pendel, Präzisionsuhr und einem Teleskop für 60-fache Vergrößerung und gelotst vom „Astronomischen Kalender“, bereiste er das Sternenmeer. Zunächst baute er sein Feldobservatorium im März 1772 in Hannover auf. Im September zog er weiter nach Osnabrück. Anfang 1773 war er wieder in Hannover und danach auf Urlaub in seiner Heimatstadt Göttingen. Weiter ging es via Hamburg nach Stade.

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) war von Hamburg sehr angetan.
Zeichnung: Uwe Ruprecht © stahlpress Medienbüro

„Vergangene Nacht in der Stunde, wo außer Gespenstern nur Reisende, Kranke und Verliebte allein noch wachen, bin ich von Hamburg hier gesund angelangt“, schrieb er an Marie Tietermann, die Haushälterin des Osnabrücker Gasthofs, in dem er logiert hatte. Er hatte sich in „Miecken“ verliebt und war untröstlich, als er später von ihrer Heirat erfuhr.

In der Festungsstadt Stade fühlte er sich sehr unwohl und stellte fest, „dass es mir in meinem Leben nirgends weniger gefallen hat als hier“. Allein dass er für wenig Geld mit dem Schiff Ausflüge nach Hamburg machen konnte, heiterte ihn auf.

Für besondere Abwechslung sorgte vom 9. bis 17. Juli die Fahrt auf einem Frachtsegler. Auf der Hamburger Insel Neuwerk legten Lichtenberg und seine acht „Argonauten“ eine Pause ein und wanderten im Watt. Weil seine Begleitung aus hannoverschen Soldaten bestand, war er auf der dänischen Insel Helgoland nicht willkommen und musste sie nach kurzem Rundgang wieder verlassen. Niemand reiste damals zum Vergnügen, und Lichtenberg kann als Pionier des Tourismus gelten. Die Falschmeldung einer Hamburger Zeitung, das Schiff sei verunglückt, erschien erst, als die Reisenden zurückgekehrt waren.

m Herbst unternahm Lichtenberg mehrtägige Ausflüge nach Hamburg. Im Kaffeehaus an der Börse lernte er das neumodische Billardspiel kennen. Einer seiner ehemaligen Studenten aus Göttingen brachte ihn mit Friedrich Gottlieb Klopstock zusammen, den er viermal traf. Der Dichter, der seit 1771 in Hamburg wohnte, hatte gerade sein Versepos „Der Messias“ vollendet: 20.000 Zeilen über Leben und Leiden Jesu. Lichtenberg fand den Autor sympathisch, seine Lyrik aber schwülstig: „Mit größerer Majestät ist wohl noch nie ein Verstand stillgestanden.“
Anfang November beendete Lichtenberg seine Messungen in Stade. Über Harburg kehrte er nach Göttingen zurück. Im Juni 1778 war er nochmals in Hamburg und wollte erneut Helgoland besuchen, musste aber im Sturm umkehren.

Wieder schwärmte er vom Hafen: „Der Anblick ist und bleibt unbeschreiblich, und ein schönes Mädchen mit ihrem Kopfzeug, das eben vom Herzenfang zurückkehrt, ist nur eine Kleinigkeit dagegen.“ In Wandsbek besichtigte er den berühmten Garten des Barons von Schimmelmann und dessen im Bau befindliches Schloss.

 

Text: Volker Stahl © SeMa/Fotos: © stahlpress Medienbüro

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