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Die Streicher von St. Pauli

Musik aus dem Bunker an der Feldstraße

Mit „Klangzeiten“ unterwegs in Hamburg – hier im Rauhen Haus. Foto: Ensemble Resonanz. © Jann Wilken

Seit 1995 verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig Stolpersteine – kleine Betonwürfel in der Größe 10 x 10 x 10 cm, mit darin verankerten Messingplatten. Die Inschriften der Platten nennen Namen und Lebensdaten von Menschen, die Opfer der NS-Diktatur wurden, die einst dort lebten, wo heute die Stolpersteine an sie erinnern. Allein in Hamburg gibt es 7.000 Steine, die zum Innehalten, zum Stolpern auffordern. Einzigartig ist ein Stolperstein an der Feldstraße. Mit den gigantischen Abmessungen von 75 × 75 × 38 Metern. Sein Architekt Friedrich Tamms wollte mit der mittelalterlichen Burganmutung des Hamburger Flakturms Wehrhaftigkeit suggerieren. Der Turm hat weder den Feuersturm von 1943 verhindert noch den Untergang des „Dritten Reichs“ aufhalten können.

Kann das weg oder ist das ...?

Eine Vorstellung davon, wie es unmittelbar nach dem Krieg im Bunker zuging, vermittelt der Kriminalroman „Der Trümmermörder“ von Cay Rademacher. Einfach gruselig. Eine kurzzeitig erwogene Sprengung wurde wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen verworfen. Anfang der 1950er Jahre diente ein Teil der Räume als Notunterkunft für Frauen und Kinder auf der Flucht vor häuslicher Gewalt. Ab 1990 kam Struktur in die Nutzung des Betonklotzes, der nun durch den Einzug diverser Medienschaffender den Beinsamen „Medienbunker“ bekam. Im Jahr 1993 erwarb ein Investor für sechs Millionen DM das Erbbaurecht für den Bunker bis zum Jahr 2053. Gemeinsam mit einer Investorengruppe beantragte seine GmbH die Aufstockung des denkmalgeschützten Bauwerks um fünf Stockwerke mit einer Höhe von weiteren 20 Metern. Mit anderen Worten – am und auf dem Betonklotz sollte sich viel bewegen.

Die Streicher von St. Pauli vor der Elbphilharmonie – hier sind sie „Ensemble in Residence“ und eine tragende Säule des Kulturangebots.
Foto: Ensemble Resonanz ©
Tobias Schult

Es grünt so grün

Nach erfolgter Genehmigung durch das Bezirksamt Mitte stimmte 2017 auch die Bürgerschaft den Bauplänen und der Verlängerung des Erbbaurechtsvertrages zu. Ein Grund dafür könnte ein ganz außergewöhnliches Gestaltung- und Nutzungskonzept gewesen sein, von dem nicht nur alle Hamburger, sondern ganz sicher auch der Tourismus profitieren wird. Denn es war – wie heute tatsächlich umgesetzt – nicht nur eine Aufstockung mit Begrünung, sondern auch ein öffentlich zugänglicher Park in luftiger Höhe Gegenstand der Planung. Im September 2023 wurde das letzte Treppenteil für den Bergpfad montiert. Der startet unten und führt rund um die Außenwände des Bunkers nach oben. Sein Ziel ist ein 1.400 Quadratmeter großer Stadtgarten in 58 Metern Höhe. Insgesamt gibt es mehr als 10.000 Quadratmeter Grün- und Gemeinschaftsflächen. Auf dem Dach wird außerdem geforscht: Finanziert vom Bundes- umweltministerium sammeln rund 80 Sensoren in den Beeten Daten darüber, was Pflanzen direkt am Gebäude bewirken. Ein Hotel mit 134 Zimmer und Gastronomie wartet ab April auf Gäste.

Der Bunker Feldstraße 66. Ein Betonklotz voller Musik und mit großer Ausstrahlung sowie optimaler Anbindung an das HVV-Netz.
Foto: Krause

Gar nicht übel und gefährlich

In den Tagen des Krieges hatte der Bunker einen separaten Eingang für Frauen mit Kinderwagen – ob es jener ist, der heute den Enkeln der Babys von damals und ihren Freunden den Eingang zu einem der angesagtesten Musik-Clubs Hamburgs, dem „Übel und Gefährlich“, weist, ist ungewiss. Nachdem ein Handgranatenanschlag im Jahr 2000 auf den Vorgängerclub mit neun Schwerverletzten wie ein Nachbeben der kriegerischen Vergangenheit wirkte, geht es heute dort zwar laut, aber friedlich zu. Für viele junge Hamburg Besucher ist der Club im vierten Stock des Bunkers allein schon die Reise wert. Es wird nicht nur in der Höhe musiziert – im ersten Stock haben seit fast zehn Jahren klassisch ausgebildete Musiker ihren künstlerischen Mittelpunkt, deren Wirken weit über Hamburg hinaus regelmäßig begeistert. Beheimatet im Bunker an der Feldstraße, wo sie ihren eigenen Konzertsaal, den „resonanzraum«, entworfen haben, verbinden sie als „Ensemble in Residence“ der Elbphilharmonie unter Einschluss der Laeiszhalle drei künstlerische „Leuchttürme“ Hamburgs miteinander. Die Musikerinnen und Musiker haben sich einen Namen gegeben, der zugleich Programm ist: „Ensemble Resonanz“. Resonanz steht im Lateinischen für „resonare“ und bedeutet übersetzt „widerhallen, mitschwingen“. Und genau das erreicht das Ensemble regelmäßig bei seinem Publikum.

Die Sache mit den freien Künsten

Als „freier Mann“ galt gemäß Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) bei den Römern ein Mann, der sich nicht durch eigene Arbeit ernährte. Dafür sollte er aber Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – die „Sieben freien Künste“ beherrschen. Umgekehrt gilt nicht erst seit Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ der Spruch „Die Kunst geht nach Brot“. Ein Künstler, der konsequent nicht „nach Brot“ ging, war Vincent van Gogh. Nur die Unterstützung seines Bruders hielt ihn über Wasser. Mozart war, nachdem er seinem Brotherrn in Salzburg sozusagen die Noten vor die Füße geworfen hatte, einer der ersten „freien“ Künstler – aber dennoch abhängig von der Gunst zahlreicher Gönner. Und die sahen Kunst häufig kritisch. „Hätten gelernt machen Geschäfte, hätten nicht brauchen schreiben Gedichte“, bemerkte der Hamburger Bankier und Kaufmann Salomon Heine über seinen dichtenden Neffen Heinrich. In Deutschland gibt es 129 öffentlich finanzierte Berufsorchester mit 9.749 Planstellen (Stand Januar 2022). Inhaber dieser Planstellen haben – zumindest wirtschaftlich – Sicherheit. Die Gründer und auch die heutigen Mitglieder des „Ensemble Resonanz“ haben für sich einen eigenen Weg gewählt und sich zu einer gemeinnützigen Gesellschaft (eGmbH) zusammengeschlossen.

Überall dort zu Hause, wo Menschen Freude an erstklassiger Musik haben. Zum Beispiel beim letztjährigen Mozartfest in der Würzburger Residenz, dem – so urteilte Napoleon – größten Pfarrhaus der Welt. Foto: Mozartfest Würzburg 2023 © Beate Kröhnert

Ein Orchester stellt sich vor

Auf seiner Internetseite heißt es unter anderem: „Das 20-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi ist »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« des Ensemble Resonanz. Mit der Szenografin Annette Kurz begleitet seit der Saison 22/23 erstmals eine visuelle Künstlerin das Ensemble als Artist in Residence. In Hamburg bespielt das Ensemble Resonanz mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum St. Pauli zwei besondere und unterschiedliche Spielorte. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet die Konzertreihe „resonanzen“, die in der 22. Saison für Furore sorgt. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen. Und wenn Streicher allein für ein Werk nicht reichen? Das Ensemble hat einen großen Pool von Instrumentalisten, vom Pianisten bis zum Schlagzeuger, mit denen eine erprobte Zusammenarbeit gepflegt wird. 

Lebenselixier Musik

Etliche Angebote des „Ensemble Resonanz“ sind nahbar und sprechen damit Kinder und auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen direkt an. „Funkelkonzerte“ und „Elfi-Babykonzerte“ wenden sich an die junge Generation. Die Reihe „Klangzeiten“ lädt nicht nur in die Elbphilharmonie ein, sondern geht auch dahin, wo ein weniger mobiles Publikum Freude an Musik hat. Unstrittig ist, dass Musik geradezu ein Geschenk für demenziell erkranke Menschen ist. Mit Musik können sie noch lange angesprochen werden. Klang kann ein Weg sein, einen Teil der verblassenden Identität zurückzugewinnen. „Klangzeiten“-Konzerte gibt es zum Beispiel im „Erlenbusch“ der Martha Stiftung, im Mathias-Claudius-Heim, im Hartwig-Hesse-Quartier, im Rauhen Haus oder im Albertinen Haus. „Wir brauchen für dieses Angebot keinen Konzertsaal“, so Juditha Haeberlin, Geigerin im Ensemble, im Gespräch mit dem SeMa, „wir spielen dort, wo wir unser Publikum erreichen und gehen durchaus auch einmal direkt zu denen, die nicht zu uns kommen können. Wenn Interesse an einem ‚Klangzeiten‘-Konzert besteht, freuen wir uns über eine Kontaktaufnahme über unsere Mailadresse mail@ensembleresonanz.com 

Der „resonanzraum“ im ersten Stock des Bunkers ist die Heimat des „Ensemble Resonanz“. Von hier schwärmt es aus.
Foto: Ensemble Resonanz © Jann Wilken 

Noch mehr Resonanz

Die „resonanzen“-Konzertreihe des Bunkerorchesters ist der musikalische Heimathafen des „Ensemble Resonanz“. „Stuhlkantig und experimentierfreudig präsentieren die Musikerinnen und Musiker pro Saison sechs Programme zwischen Barock, klassischer Moderne und Avantgarde. Uraufführungen der interessantesten zeitgenössischen Komponisten treffen auf frisch interpretierte Meisterwerke der Musikgeschichte. Jeder resonanzen-Abend erzählt eine eigene Geschichte.“ Die Reihe beinhaltet sechs Konzertprogramme in der Elbphilharmonie und Laeiszhalle sowie kostenlose Ankerangebote, mit denen das Ensemble zu öffentlichen Proben und Konzerteinführungen in den Bunker einlädt.

Anders als die Mehrzahl der öffentlich finanzierten Orchester, erwirtschaftet das „Ensemble Resonanz“ beachtliche 80 Prozent der benötigten Mittel selbst. Die fehlenden Gelder kommen aus diversen Stiftungen und von privaten Stiftern und Spendern. Im Freundeskreis des Ensembles ist jeder eingeladen, sich hier einzubringen und damit dem Klangkörper besonders verbunden zu sein ONLINE   

 

F. J. Krause © SeMa

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