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Die ominöse 78. Minute

Bei der Fußball-WM 1974 kam es im Hamburger Volksparkstadion zum historischen Bruderkampf zwischen der Bundesrepublik und der DDR!

Das legendäre Sparwasser-Tor. Zeichnung: Uwe Ruprecht, stahlpress Medienbüro

Es kommt selten vor, dass sich eine Spielszene in das kollektive Gedächtnis einer Fußballnation einbrennt. Helmuts Rahns Tor in der 84. Minute zum 3:2 bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gegen Ungarn ist so ein Moment für die Ewigkeit. Auch Jürgen Sparwassers Geniestreich 20 Jahre später gehört zu dieser Kategorie.

Und das kam so: Die Münder der symbolträchtig am Boden liegenden Maier und Höttges stehen ebenso sperrangelweit offen wie das westdeutsche Tor, Cullmanns und Breitners Blicke aus dem Hintergrund spiegeln blankes Entsetzen wider, einzig der wie immer unermüdlich kämpfende Vogts versucht noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Sein linkes Bein streckt sich – im Vergleich zur unerreichbar vorbeirauschenden Lederkugel – im Bahnschrankentempo dem abendgrauen Hamburger Himmel entgegen. Obwohl Berti Vogts’ Antlitz grimmige Entschlossenheit ausdrückt, zappelt der Ball Sekundenbruchteile später in den Maschen des Tores. In diesem Moment liegt Sepp Maier bereits auf dem Rücken und zappelt mit allen Vieren wie ein hilfloser Marienkäfer.

DDR-Torhüter Croy bejubelt das „goldene Tor“. Foto: Nordbild Kaiser/Archiv Trede

Jürgen Sparwassers legendärer Treffer in der 78. Minute am Abend des 22. Juni 1974 gegen den Mitfavoriten auf den Titel sorgte nicht nur für die größte Sensation der zehnten Fußball-Weltmeisterschaft, sondern liefert auch seit Jahrzehnten Gesprächsstoff.

Nach dem sensationellen 1:0-Erfolg der DDR gegen den vermeintlich übermächtigen kapitalistischen Bruderstaat flossen im Quickborner Sporthotel Rotkäppchen-Sekt und Wodka in Strömen. Die bis in die frühen Morgenstunden dauernde feuchtfröhliche Feier in der Unterkunft der DDR-Delegation konnte auch der irre Anrufer nicht torpedieren, der per Telefon viermal ein Attentat ankündigte. Während die Mitspieler in dem kleinen Sporthotel vor den Toren Hamburgs noch feierten, setzte sich ein DDR-Trio auf Zeit ab. „Wir sind nach dem 1:0 mit dem Taxi in die City gefahren, direkt auf die Reeperbahn. In einem Lokal, einer Männerkneipe, haben wir ein bisschen was getrunken. Am frühen Morgen waren wir wieder in Quickborn. Ein Grenzschützer empfing uns mit den Worten: ‚Ihr müsst verrückt sein. Es hat eine Bombendrohung gegeben.‘ Wir sind dann auf einem Schleichweg zurück ins Hotel“, erinnerte sich der damalige DDR-Torwart Jürgen Croy Jahre später.

Die Mauer steht: Franz Beckenbauer scheitert mit einem Freistoß. Foto: Nordbild Kaiser/Archiv Trede

Vor dem Spiel hatte bei den Westdeutschen noch Optimismus geherrscht. Bild sah die Bundesrepublik im Einzelvergleich mit 7:4 vorn. Und die seit zwei Jahren ihren Fußball-Ruhestand genießende HSV-Ikone Uwe Seeler assistierte: „Wir haben die weitaus größeren Spielerpersönlichkeiten.“ Eine Blitzumfrage der Wickert-Institute hatte ergeben: Nur 17 Prozent glaubten an einen DDR-Sieg. Auf der Ehrentribüne des Volksparkstadions hatte an jenem denkwürdigen 22. Juni 1974 reichlich Prominenz Platz genommen. Bundeskanzler Helmut Schmidt heizte die Stimmung mit der Bemerkung an, dass es bei dem Spiel „um mehr als Fußball“ ginge, Verteidigungsminister Hans Apel, ein Hamburger Jung, erwartete gar ein „lockeres 4:0“. Mercedes gegen Trabbi – klare Sache, meinten die selbst ernannten Fußballexperten im Westen.

Schlagzeile der „Bild am Sonntag“ nach der Sensation von Hamburg. Bild: Archiv stahlpress

Auf dem Platz sah es dann bald anders aus. Nachdem Grabowski nach einer knappen Viertelstunde eine Riesenchance verstolpert hatte, wuchs das Selbstbewusstsein des kompakten DDR-Kollektivs von Minute zu Minute, was sich auch in den Dialogen auf dem grünen Rasen zeigte. „Jetzt muss ich dich leider festhalten“, sagte der Münchner Franz Beckenbauer zu Harald Irmscher vor einem Eckball. „Das schaffst du nicht!“, antwortete der Mann aus Jena dem „Kaiser“. Das war nichts anderes als Majestätsbeleidigung. Während des weiteren Spielverlaufs reagierte das kritische Hamburger Publikum zusehends ungehaltener. Der von Bayern-Spielern dominierten Nationalmannschaft schallten immer lauter „Uwe, Uwe“-Rufe entgegen. Die anfangs recht kleinlauten 1500 DDR-Schlachtenbummler intonierten nun ihren Schlachtruf „7, 8, 9, 10, Klasse“ immer stimmkräftiger.

Bis zur ominösen 78. Minute plätscherte das eher mäßige Spiel der beiden bereits für die nächste Runde qualifizierten Mannschaften uninspiriert vor sich hin. Erst als der Sozialpädagogik-Student Erich Hamann auf den späteren Republikflüchtling Jürgen Sparwasser passte, kam Schwung in die Begegnung. Der flinke Stürmer umkurvte die hüftsteif wirkenden Abwehrecken Höttges und Vogts wie Slalomstangen, netzte ein und schrieb mit seinem Tor Geschichte: Wenigstens einmal hatte der Sozialismus den Kapitalismus überflügelt ... Dass die Verlierer von Hamburg am Ende doch Weltmeister wurden – geschenkt!

Jürgen Sparwasser schoss in seiner Karriere viele Tore, doch der gegen BRD-Keeper Sepp Maier erzielte Treffer werde ihn wohl bis ins Jenseits verfolge, unkte der Magdeburger: „Wenn man auf meinen Grabstein eines Tages nur ‚Hamburg 74‘ schreibt, weiß jeder, wer da drunterliegt.“ Der Schriftsteller Ror Wolf widmete dem Kunstschützen in seiner Moritat zur WM 74 folgende Zeilen: „Für etwas Ärger sorgt ein schneller Herr/kurz aus der sogenannten DDR.“ Selten zuvor wurde ein Fußballspiel dichterisch so auf den Punkt gebracht.         

 

Volker Stahl © SeMa

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