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Zwischen Kirche und Kiez

Ansichten eines Pfarrers

Keine Panik – Udo und Karl tragen ihren Teil dazu bei, dass der Kiez nicht untergeht. Foto © privat

„Jeder Mensch ist in gewisser Hinsicht wie alle anderen Menschen, wie bestimmte andere Menschen und wie kein anderer Mensch“, so die nüchterne, gemeinsame Erkenntnis des Psychologen Henry Alexander Murray und des Ethnologen und Soziologen Clyde Kay Maben Kluckhohn. Christen sind davon überzeugt: „Du bist wundervoll, einzigartig und geliebt.“ Auf seinem Kiez, mitten in St. Pauli, ist es Karl Schultz, der als Pfarrer der St.-Joseph-Kirche an der Großen Freiheit diese Botschaft lebt. „Geliebt“ das bedeutet für Schultz „geachtet“ und „wertgeschätzt“, er nimmt Menschen, die ihm begegnen, so wie sie sind. „Ich bin Seelsorger – kein Polizist“, er hat ein offenes Ohr und keine Handschellen.

Der älteste Club auf St. Pauli

Heute reihen sich auf der Reeperbahn und in ihren angrenzenden Straßen Clubs, Kneipen, Theater, Restaurants und andere „weltliche“ Angebote aneinander. Das war nicht immer so. Weil nach der Reformation in Hamburg einzig die lutherische Lehre galt, war für Katholiken in der Hansestadt kein Raum. Als Herzog von Holstein verlieh König Friedrich III. von Dänemark der katholischen Gemeinde von Altona im Jahr 1658 das Privileg der Glaubensfreiheit und wies ihr auf der Großen Freiheit einen Bauplatz zur Errichtung eines Gotteshauses zu. In Altona konnten Handwerker und andere Gewerbetreibende ohne Mitgliedschaft in einer Zunft arbeiten – im Gegensatz zu Hamburg herrschte dort tatsächlich „Große Freiheit“. Bereits 1660 bauten die Katholiken eine Kapelle – 1721 erfolgte die Weihe der barocken St.-Joseph-Kirche. Sie war nach der Reformation die erste katholische Kirche im nördlichen Mitteleuropa. Ihre Gemeinde ist die älteste katholische Gemeinde im heutigen Norddeutschland. Ihr „Chef“ – der 1957 in Wittenburg geborene Karl Schultz.

Von Udo Lindenberg gestaltet – das Titelblatt „Zwischen Kirche und Kiez“.

Ansichten eines Pfarrers

Wer schreibt, der bleibt. Viele Promis drängt es daher zur Feder oder zum Ghostwriter. Auch Karl Schultz, der Kiez-Pfarrer, hat ein Buch geschrieben. Ein Buch, das jene enttäuschen wird, die etwas Pikantes aus dem Rotlichtmilieu oder Nähkästcheninformationen aus der krisengeschüttelten katholischen Kirche erwarten. Sein Freund Udo Lindenberg, dem das Buch Titelgestaltung und Vorwort verdankt, attestiert ihm „Haltung, Toleranz und Respekt, Offenheit und Freiheit“. Aus dieser Haltung heraus ist ein Buch entstanden, das die sehr persönlichen Ansichten und Einsichten eines lebenserfahrenen Mannes aufblättert. Eines Mannes, der seit 2010 auf St. Pauli ein glaubwürdiger, weil kritischer Vertreter einer Kirche ist, die immer noch gern „von oben herab belehrend daherkommt“, wie Udo Lindenberg findet.

Menschenfreundlichkeit und Kontaktfreude sollten zwingend zum Anforderungsprofil eines Seelsorgers gehören. Nicht immer wird es erfüllt. Karl Schultz verkörpert beide Eigenschaften. Im Lauf seines Wirkens an der Großen Freiheit hat sich ein Netzwerk entwickelt, das weit über den kirchlichen Tellerrand hinausgeht. Schon längst empfinden seine Nachbarn in Clubs und Kneipen den „Chef“ von St. Joseph als einen der Ihren, der die ganz unterschiedlichen Lebensentwürfe um sich herum nicht be- oder verurteilt, sondern respektiert. Der über die Segensverweigerung für homosexuelle Paare nur den Kopf schüttelt. „Segen“, so Schultz, „ist ein Geschenk Gottes an uns Menschen, nicht ein gnädiges Geschenk der Kirche. Keiner muss sich den Segen Gottes verdienen.“

Der „älteste Club“ auf St. Pauli – St. Joseph, Große Freiheit 41. Foto: Krause

Alter Geist – heute noch lebendig

Jeder Stadtteil hat eigne Gesetzmäßigkeiten und Menschen, die den Stadtteil prägen. Das gilt in ganz besonderer Weise für St. Pauli. Karl Schultz ist einer von ihnen, so wie Udo Lindenbeg, Olivia Jones, Corny Littmann oder Kiez-Fotograf Günter Zint. Milieuprägend sind auch die unterschiedlichen christlichen Gemeinden. Sie alle spiegeln bis heute „den Geist der Gründerzeit Altonas wider, geprägt von Einwanderung, Inte-gration, Toleranz, Respekt und Teilhabe“, wie Schultz sagt –und mit vielen Beispielen und Geschichten belegt.
Vom Suchen und Finden ...

... ist das Motto der diesjährigen Nacht der Kirchen am 17. September. Besucher, die sich am Wochenende über Reeperbahn und Große Freiheit schieben, suchen in aller Regel keine Kirche und sind dann ebenso erstaunt, sie ausgerechnet auf der Großen Freiheit zu finden. Karl Schultz, der „Chef“ des ältesten Clubs dort, lädt sie ein, die barocke Kirche zu betreten. Die Türen sind ab 22 Uhr weit geöffnet; Türsteher gibt es nicht – dafür aber Livemusik. Zwischen 400 bis 600 Menschen nutzen das Angebot. Manche nur für ein Foto – andere verweilen. Was Hamburgern kaum bekannt ist – auf St. Pauli ist jedes Wochenende „Nacht der Kirchen“ „Man kann nicht Pfarrer einer Gemeinde sein, ohne sich mit dem Ort zu verbinden, an dem man wohnt, lebt und arbeitet“, das ist das Credo des Kiezpfarrers Karl Schultz. Von dieser Verbindung zeugt sein nicht nur für Christen lesenswertes Buch „Zwischen Kirche und Kiez“.     

 

F. J. Krause © SeMa

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