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Wollt auch Ihr weggehen?

Volkskirchen – starke Vereine oder bald Nischenorganisationen? Im Sommer 2022 wurde eine Kennzahl veröffentlicht, die kaum noch ein Schulterzucken hervorgerufen hat. Bezogen auf das Jahr 2021, sind erstmalig weniger als 50 % der Bundesbürger Mitglieder einer der beiden großen Volkskirchen. Sind die beiden Kirchen, wie Beate Bäumer vom Katholischen Erzbistum Hamburg findet, wirklich „starke Vereine“ und „Unternehmen mit Ewigkeitsgarantie?“ Ist die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen daran zu messen, dass sie deutlich mehr Mitglieder haben als politische Parteien? Wie ist es zu bewerten, dass in einer Umfrage von infratest dimap für die ARD-Themenwoche 2022 „WIR GESUCHT – WAS HÄLT UNS ZUSAMMEN?“ auf die Frage „Wer leistet einen angemessenen Beitrag für den Zusammenhalt in Deutschland“ von den Befragten diese Funktion den Kirchen lediglich 27 % attestierten – Sportvereinen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen aber 76 %?

Einfach weg – 2021 verließen 9788 Katholiken und damit 37 Prozent mehr als im Vorjahr das von Dr. Stefan Heße geführte Erzbistum Hamburg.

Himmel – veruntreut, verloren oder nicht vorhanden?

Vom „veruntreuten Himmel“ handelt ein Roman Franz Werfels. Um sich einen Platz im Himmel zu sichern, finanziert die Köchin Teta Linek unter großen Entbehrungen die Ausbildung ihres Neffen Mojmir zum Priester. Doch ihr Neffe hat sie ausgenutzt und betrogen: Er ist keineswegs Priester geworden, sondern ein „lumpiger Spitzbube und Gottfopper“. Damit, so die Logik seiner Gönnerin, hat er den für sie sicher geglaubten Platz im Himmel „veruntreut“. Professor Thomas Großbölting, Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Uni Hamburg, hat sich ebenfalls mit dem Himmel beschäftigt. In seinem Buch „Der verlorene Himmel – Glaube in Deutschland seit 1945“ zeichnet er akribisch den Auszug der Deutschen aus den Kirchen auf. Ein Platz im Himmel ist inzwischen für die Mehrzahl der Deutschen zwar möglicherweise nicht „verloren“ – aber die Funktion der Kirchen als Wegweiser dahin wird immer weniger anerkannt. Schlimmer noch für die Kirchen:  Es geht auch ohne Himmel. Wie aus einer 2022 durchgeführten Befragung des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes hervorgeht, glauben nur noch 38 Prozent der Menschen an ein Leben nach dem Tod. Norbert Fischer, Kulturwissenschaftler an der Universität Hamburg, vermutet: „Für manche Menschen spendet auch der Glaube an das Nichts Trost. Zu wissen, dass keine weitere Prüfung kommt, dass man alles geleistet hat, was zu leisten war und ist, dass es wirklich ein Ende gibt.“

Katholisch – teilweise wie vor 500 Jahren

Mit 8 Jahren Abt zweier Klöster, mit 14 Jahren Kardinal, mit 37 Jahren Papst. Als Leo X. war Giovanni de’ Medici wie etliche seiner Vorgänger und Nachfolger mehr prunksüchtiger Feudalherr als Mann Gottes. Zur Finanzierung des Petersdom-Neubaus förderte er den Ablasshandel. Für Martin Luther einer der Anstöße, seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 zu veröffentlichen. An den kirchlichen Missständen änderte sich nichts. Die Kurie erwies sich zu jenem Zeitpunkt als reformresistent. Parallelen dazu sehen Katholiken auch heute. Zwar wird niemand Papst Franziskus Prunksucht unterstellen – doch wenn es darum geht, nicht „geweihten“ wirkliche Gestaltungsmöglichkeit einzuräumen oder gar Frauen zum Priesteramt zuzulassen, ist die Kurie so unbeweglich wie vor 500 Jahren. Hinzu kommt das Verhalten der Bischöfe in Sachen Missbrauchsaufklärung. Durch Austritt signalisieren Katholiken der „Täterorganisation“ (Zitat Weihbischof Rolf Steinhäuser, Köln), dass sie deren Kurs nicht weiter mittragen wollen. Dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode sind diese Menschen nicht gleichgültig: „Es wird zu wenig beachtet, dass inzwischen sehr viele der Menschen, die ausgetreten sind, aus der Mitte der Kirche kommen. Mit ihnen sollten wir ganz besonders in Verbindung bleiben. Sie machen oft klar, dass sie eine Beziehung zur Kirche und zum Glauben behalten möchten. Da ist es wichtig, in Kontakt zu bleiben. Das ist nicht einfach, es werden auch keine Massen sein, die wir erreichen. Aber es lohnt sich.“

Kirsten Fehrs, Bischöfin der Nordkirche und stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. 2021 traten 32.551 Christen und damit 23% mehr als im Vorjahr aus der Nordkirche aus.

Mit Luther bessere Karten?

Müssen sich Katholiken fast schon rechtfertigen, dass sie nicht aus der Kirche austreten, haben Mitglieder der evangelischen Kirche mehr Probleme, wenn es darum geht, ihren Austritt argumentativ zu begründen. Hat der Leserbriefschreiber im „Hamburger Abendblatt“ recht, wenn er ausführt „Die evangelische Kirche ist zu einer ‚woken‘ Zeitgeist-Lifestyle-Kirche mutiert. Warum also Kirchensteuer zahlen und Sonntagsfrüh zur Kirche gehen, wenn man dasselbe ‚Zeitgeist-Pippi-Langstrumpf-ich-mache-mir-die-Welt-wie-sie- mir-gefällt-Denken‘ auch abends in fröhlicher Runde erleben kann? Ich warte nur noch auf die Entscheidung einer Kirchengemeinde, aus Jesus ein Mädchen (wegen Gendergerechtigkeit) und aus Josef (freie Wahl des Geschlechts) eine Josefine zu machen, um nun auch die LGBTQ-Truppe anzusprechen.“ Die Nordkirche selbst hat eine andere Sicht: „Besonders unter den Jüngeren, die die Nordkirche verlassen haben, sind die fehlende religiöse Sozialisation und eine kaum religiös geprägte Kindheit in einem kirchenfernen Elternhaus entscheidende Motive für den Austritt: Religion und Kirche spielen im Leben der ausgetretenen Mitglieder leider keine Rolle mehr. Auch die Ersparnis der Kirchensteuer ist ein oft genannter Grund. Die Nordkirche steht angesichts der vielfältigen Beweggründe für die Austritte vor der Aufgabe, neue Anreize für den Eintritt in den Kirchenbund zu schaffen und dabei flexibler auf individuelle Lebenssituationen einzugehen. Dazu hat die Nordkirche einen Zukunftsprozess angestoßen, der Menschen vielfältige Zugänge zum Glauben und dem gemeindlichen Leben in Kirche und Diakonie eröffnet“, so Dieter Schulz, der Pressesprecher der Nordkirche.

Trotz aller Unzulänglichkeiten – Christoph Kardinal Schönborn von Wien fordert dazu auf, „an Bord“ zu bleiben.
© EB Wien

Zahlen in Deutschland

Im Jahr 2021 verlor die katholische Kirche mit mehr als 359 000 Mitgliedern so viele Menschen, wie Bochum Einwohner hat und nur geringfügig weniger als das gesamte Erzbistum Hamburg Katholiken zählt. Rund 280 000 Menschen – also in der Größenordnung von Wiesbaden – kehrten der evangelischen Kirche den Rücken zu. Vorläufige Zahlen sprechen dafür, dass die Verluste 2022 noch größer sein werden. Professor Großbölting zitiert in seinem Buch ein Meinungsforschungsinstitut, wonach sich selbst 15 % der Mitglieder der evangelischen und 17 % der katholischen Kirche als „religionslos“ bezeichnen. Der „Religionsmonitor 2023“ der Bertelsmann Stiftung ergab: Bei den 16- bis 25-jährigen Kirchenmitgliedern haben 41 Prozent die feste Absicht, ihre Kirche zu verlassen. Weit über 80 Prozent der Kirchenmitglieder meinen demnach aktuell, dass man auch ohne Kirche Christ sein könne. Eine Studie der Universität Freiburg prognostiziert, dass beide Kirchen bis 2060 zusammen noch etwa 22 Millionen Mitglieder haben werden – das entspräche dann rund einem Viertel der Bevölkerung. „Ich fürchte in Thüringen nicht Minarette, sondern Kirchtürme, die den Leuten keine Botschaft mehr vermitteln“, so Joachim Wanke, bis Oktober 2012 katholischer Bischof von Erfurt. Für die Mehrzahl der Bundesbürger scheinen Kirchtürme ohne Botschaft schon heute Realität zu sein.     
Da fragte Jesus die zwölf: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“

Joh. 6.67–6.69
„Jesus hat damals, als so viele von ihm wegliefen, sie nicht zurückgehalten. Er hat sie auch nicht verurteilt und ihnen wilde Drohungen nachgeworfen. Immer hat er die Freiheit geachtet. Nie wollte er jemanden zum Glauben zwingen. Aber er hat auch seine Worte nicht abgeschwächt, um sie annehmbarer zu machen. Jesus will niemanden festhalten. Petrus antwortet für die, die bleiben: „Herr, zu wem sollen wir gehen?“ Jesus ist nicht bequem. Sein Anspruch ist groß. Sein Weg nicht einfach. Und doch: Ich wüsste für mich keinen besseren. Ich bin froh, ihn gehen zu dürfen. Ich versuche es. Ich glaube, es lohnt sich.“
Kardinal Christoph Schönborn, Wien 25.08.15

 

F. J. Krause © SeMa

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