Verkehrswende
... ohne Rücksicht auf Senioren? „Ideologen sind scharfe Denker, die sich durch Tatsachen nicht beirren lassen.“ Carlo Franchi (1938–2021), italienischer Autorennfahrer
Beim Impfen ganz vorne – bei der Mobilität ganz hinten?
Die Spezies „Ideologe“ gilt im Politikgeschäft eigentlich als ausgestorben. Ihr letzter bekannter Vertreter war der 1998 verstorbene Kurt Hager, der über Jahrzehnte der SED als „Chefideologe“ diente. Diesen Posten haben heute die Parteien weder im Land noch im Bund zu vergeben. Zu glauben, dass Ideologie im Sinne von Carlo Franchi in den Parteien nicht mehr vorhanden sei, ist dagegen falsch. Ideologie lebt weiter – nur genannt wird sie nicht mehr.
Luxus gehört besteuert
Seit die Menschheit vom aufrechten Gang des Neandertalers den Sprung zur sitzenden Fortbewegung im Auto geschafft hat, ist diese vorerst letzte Innovation in Sachen individueller Mobilität Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen. Denn sich so fortzubewegen war und ist Luxus. Das erkannte zuerst der Fiskus. Schon 1899 wurde in Darmstadt/Hessen eine Steuer auf die 13 Jahre zuvor erfundenen Motorfahrzeuge erhoben – damals als Luxussteuer. Das machte im Reich Schule – überall wurde der rollende Luxus besteuert. Nachdem die Kfz-Steuer deutschlandweit Krieg und Inflation überstanden hatte, regelte sie der Reichstag mit Wirkung ab dem 1. April 1928 neu. Ein Liter „Steuer-Hubraum“ kostete jährlich 132 Reichsmark – ein stattlicher Preis bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst eines Angestellten von 177 Reichsmark. Die Steuer war ausdrücklich als „Wegenutzungs-Gebühr“ definiert. Eine Mineralölsteuer auf Kraftstoff gab es nicht. Bereits 1933 wurde die Kfz-Steuer wieder aufgehoben, um eine Verbesserung der Konjunktur in der Automobilindustrie im Deutschen Reich zu erreichen. So sollte das Autofahren billiger werden und durch eine erhöhte Nachfrage auch die Arbeitslosigkeit eingedämmt werden. Am 23. März 1935 wurde die Kraftfahrzeugsteuer erneut beschlossen. Die Erhebung der Steuer begründete man damit, dass auch der ruhende Verkehr, also abgestellte Fahrzeuge, den öffentlichen Raum beanspruchen.
Mobilitätswende wirklich mit dem HVV?
Nun steht das Auto – gern auch als „des Deutschen liebstes Kind“ bezeichnet – wieder einmal im Zentrum ideologischen Denkens und politischen Handelns. Ganz besonders in Hamburg. Zwar greift der 1981 geborene Anjes Tjarks, der erste Senator für Verkehr und Mobilitätswende, den 1899 staatlich festgestellten Zusammenhang von Luxus und Auto verbal nicht auf. Sein politisches Handeln lässt aber den Schluss zu, dass er einen Zusammenhang sieht. Auf dem Stoppschild, dass er den Autofahrern vorhält, steht allerdings nicht „Luxus“, sondern „Umwelt“. Nun liegt es in der Natur jeder „Wende“, das mit ihr auch eine „Abwende“ verbunden ist. Im Hamburg scheint der Fall klar zu sein. Es geht bei der Mobilität darum, sich vom angeblich bisher privilegierten motorisierten Individualverkehr mit massivem Finanz- und Platzeinsatz den Radfahrern und ersatzweise dem öffentlichen Personennahverkehr zuzuwenden. Wie es mit dem ÖPNV für Senioren in Hamburg und seiner Förderung steht, ist leicht erklärt: In Hamburg kostet die Senioren-Abokarte für das Gesamtnetz monatlich 119,20 Euro. In Wien, mit einem größenmäßig vergleichbaren Netz, bei einmaliger Abbuchung 235,00 und bei monatlicher Abbuchung 246,00 im Jahr! Mit anderen Worten: Hamburger Senioren, die den HVV nutzen, zahlen jährlich, verglichen mit dem weitgehend identischen Verkehrsangebot der „Wiener Linien“ in der österreichischen Hauptstadt, jährlich 1.195,40 Euro mehr. Vor dem Hintergrund, dass wegen geringerer Beiträge zur Krankenversicherung und dem Fehlen einer Pflegeversicherung die Renten in Österreich durchschnittlich höher als in Deutschland sind, kann nur neidisch in Richtung Wien geschaut werden. Dass auch jüngere Wiener das Jahresticket für das Gesamtnetz für 396 Euro erwerben können, rundet das Bild ab. In Hamburg gilt: Mobilitätswende ja – aber nicht mit dem HVV, denn für wendefördernde Tarife ist kein Geld da.
Gelder rollen für das Rad
Dafür aber für Velorouten. Denn das Radfahren ist in – und nicht nur beim Senat. Wobei die seinerzeit „Alltagsrouten“ genannten Radschnellwege keine grüne Erfindung sind. Bereits 2007 hatte der damalige CDU-Senat eine umfangreiche „Radverkehrsstrategie für Hamburg“ beschlossen, mit dem Ziel, dass die damals noch „Alltagsrouten“ genannten Velorouten „bis 2015 in einen komfortabel und sicher befahrbaren Zustand gebracht sowie mit einer einheitlichen Wegweisung versehen werden“ sollten. Dennis Heinert, Pressesprecher der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende, verweist stolz auf rund 160 Millionen Euro, die Hamburg in 2020 bis 2022 für Radwege ausgegeben hat oder noch ausgeben will. Ziel ist, dass in Jahr 2030 rund 80 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger zu Fuß, mit dem Rad oder dem HVV unterwegs sind. Um das zu erreichen wurde eigens ein „Bündnis für den Radverkehr“ geschmiedet – Radfahrbeauftragte in den Bezirken sollen ebenfalls die Nutzung des Rades fördern. Der grüne Verkehrssenator Anjes Tjarks sieht die Zukunft des Individualverkehrs im Fahrradsattel. Und für jene, die nicht treten wollen oder können, soll es das Pedelec richten. Griffig ausgedrückt: „Wer nicht treten will, soll stromen“. Dabei hat er vermutlich besonders die Senioren im Auge.
Volles Risiko
Nach vorläufigen Daten sind im Jahr 2020 2.724 Menschen in Deutschland bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Das ist der niedrigste Stand seit 60 Jahren. Auch die Radfahrer ohne Hilfsmotor trugen zu dieser positiven Entwicklung bei. Dagegen stieg die Zahl der getöteten Pedelec-Fahrerinnen- und Fahrer um 19 Prozent auf 137 Opfer. Die spezielle Situation einer Großstadt wie Hamburg beleuchten diese Zahlen: Mehr als ein Drittel der tödlichen Unfälle von Fahrradfahrern (inklusive Pedelec (Pedal Electric Cycle)) in der Stadt geschieht ohne Beteiligung anderer Verkehrsteilnehmer. (https://www.dekra.de/media/dekra-evs-report-2020-de.pdf). Die Auswertungen von Zahlen des Statistischen Bundesamtes durch die DEKRA ergaben, dass im Jahr 2019 annähernd 37 Prozent der tödlichen Radstürze im Stadtverkehr sogenannte Alleinunfälle, also ohne Beteiligung Dritter, waren. In der Reihenfolge geht es mit 31 Prozent Pkw-, 18 Prozent Lkw und lediglich 1,5 Prozent Radfahrbeteiligung weiter. Die Generation 65 + ist mit mehr als 50 Prozent Opfer der tödlichen Verkehrsunfälle mit Fahrrädern/Pedelecs.
Mit dem Pedelec hat sich eine neue Form der Mobilität entwickelt. In Deutschland waren 2019 insgesamt 5,4 Millionen Pedelecs im Einsatz, das sind 3,3 Millionen mehr als 2014. Dass das Pedelec bei Senioren sehr beliebt ist, kommt nicht von ungefähr. Die Unterstützung des Elektromotors macht ohne größere Anstrengungen auch längere Fahrten möglich. Das ist positiv. Leider spiegelt sich der Anteil der Senioren auch in der Unfallstatistik deutlich wider. 2019 waren in Deutschland 60 Prozent der getöteten Pedelec-Fahrer über 70 Jahre alt. Fast 51 Prozent von ihnen waren sogar über 75 Jahre alt.
Die unterschätzte Gefahr
Warum ist das Pedelec gerade für Senioren so gefährlich? Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass die Geschwindigkeit eines Pedelecs vom Fahrer selbst und anderen Verkehrsteilnehmern deutlich unterschätzt wird. Dazu kommt, dass ältere Menschen häufig ungeübtere Fahrer sind, da sie lange nicht mit einem konventionellen Fahrrad unterwegs waren und nun den Wiedereinstieg mit dem Pedelec wagen. Die ungewohnt starke Beschleunigung und die großen Bremsleistungen müssen beherrscht werden. Im Alter nehmen zudem die Reaktionsfähigkeit (Sehstärke, Gleichgewichtssinn) und die allgemeinen körperlichen Voraussetzungen zum Fahren eines Zweirads ab. Auch die Widerstandsfähigkeit des Körpers bei Stürzen lässt bei älteren Menschen deutlich nach. Sie verletzen sich bei Stürzen schneller und vor allem gravierender als junge Radfahrer. Fazit: Das Pedelec birgt zwar für die ältere Generation erheblichen Zuwachs an Mobilität – aber gleichzeitig auch an Risiken. Fest steht: Weder das Normal- noch das E-Rad kann es in punkto Sicherheit mit dem ÖPNV oder mit dem Pkw aufnehmen.
Freie Fahrt für freie Radler
Während die Hinwende zum Rad in Hamburg bewusst zu Behinderung des ruhenden und rollenden Autoverkehrs führt, sind etliche Radfahrer damit noch lange nicht zufrieden „Die Velorouten greifen eh kaum. Zum einen sind sie oft durch Rechts-vor-links-Gegenden geführt. Und wenn sie mal bevorrechtigt sind, werden sie von Autofahrern genutzt, um dem Stau auf anderen Straßen zu entgehen (z. B. Holländische Reihe als Umgehung der Elbchaussee) – dadurch steht man als Radfahrer dann mitten im Stau ... Von den vielen ungünstig geschalteten Ampeln ganz abgesehen ...“, so beklagt sich ein Radfahrer im Internet. Eigentlich sind Radfahrer auch an die Straßenverkehrsordnung gebunden – dass besonders Kurierfahrer davon nichts wissen wollen, ist Alltag. Aber auch auf den oft breiter als Fußwege geplanten Radwegen oder Radstreifen (zum Beispiel bis zu 4,75 Meter auf dem Ballindamm) sind Verkehrsteilnehmer auf Rädern unterwegs, die dem Arbeitsgerät von Jan Ullrich durch ausähnlich sind. Und so werden sie häufig auch gefahren, wenn sie an langsameren Radlern und Autos vorbeifliegen.
Sicherheit auf vier Rädern
Nicht nur in Corona-Zeiten sind die Gründe, das eigene Auto und nicht das Rad oder den ÖPNV zu nutzen, gewichtig. Nicht nur für Senioren. Aber gerade auch für sie. Maskenfrei und nur von den eigenen Aerosolen umgeben, ist man nur im eigenen Auto unterwegs. Mobilität vom eigenen Heim direkt zum Ziel und zurück sind Pluspunkte, die nur der eigene Pkw bietet. Voraussetzung: Es ist angemessener Parkraum vorhanden. Eine weitere Alternative wäre – wenn denn aktiv – das MOIA-Fahrangebot und das Taxi. MOIA hat seinen kostengünstigen Betrieb seit Monaten eingestellt. Taxis sind für viele Senioren unerschwinglich. Eine Konstellation, die den Schluss zulassen könnte, dass Senioren, zumal die Automobilisten und jene mit geringem Einkommen oder Hamburger mit körperlichen Einschränkungen nicht im Fokus der Mobilitätswende stehen.
Wo bleibt der Glaube?
Nicht nur auf zwei – auch auf vier Rädern soll der Elektroantrieb die Wende in eine emissionsfreie Zukunft bringen. Ganz zu schweigen von den umweltfreundlichen Möglichkeiten, die Motoren mit Wasserstoffantrieb bieten könnten. Sieht man die sprunghafte Entwicklung von der Kohlefaden-Lampe des Thomas Alva Edison aus dem Jahr 1879 zu den heutigen LED-Leuchtköpern mit ihrem gigantischen Stromsparpotential, könnten die augenblicklich fast noch exotischen Pkws mit ausschließlichem Strom- oder Wasserstoffantrieb in wenigen Jahren zur Regel werden. Glaubt man in der „Mobilitätswende-Behörde“ nicht an solch eine Entwicklung? Denn unermüdlich ist man dabei, nicht nur den rollenden Pkw-Verkehr zugunsten des Fahrrads zu behindern und einzuschränken. Auch dem ruhenden Verkehr geht es an den Kragen, um freie Fahrt für freie Radler zu schaffen. Rigoros werden Parkplätze zugunsten von Radwegen vernichtet. Setzt der Senat darauf, dass sich das Umweltauto von Übermorgen nach Gebrauch zusammengefaltet in die Ecke stellen lässt?
Vorläufiges Fazit
Senioren sind Menschen, die Elternhaus, Schule, Universität und Berufsausbildung längst hinter sich gelassen haben. Ihre Erziehung ist somit abgeschlossen. Als Menschen und als Wähler schätzen sie es nicht, erneut erzogen zu werden. Die Grünen in Hamburg, mit einem überproportional hohen Anteil junger Mandatsträger, sollten das berücksichtigen und bei ihren politischen Entscheidungen daran denken, dass auch aus jungen Grünen einmal graue Alte werden.
Text und Bilder F. J. Krause © SeMa
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