Training mit dem Avatar
Hospital zum Heiligen Geist auf neuen Wegen
So kontrovers es beim Ringen um die Plätze im Bundestag auch zugegangen ist – ein Wort führten alle Politiker fast wie ein Mantra immer wieder im Munde: Digitalisierung. Lebten zuvor unzählige Generationen noch „analog“, ist es der heutigen Generation zugedacht, alle Lebensbereiche „digital“ zu durchdringen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Digitale Daten erlauben die Nutzung, Bearbeitung, Verteilung, Erschließung und Wiedergabe in elektronischen Datenverarbeitungssystemen. Sie können maschinell und damit schneller verarbeitet, verteilt und vervielfältigt werden. Der Platzbedarf ist deutlich geringer als bei anderen Formen der Archivierung. Andererseits wird damit auch dem „gläsernen Menschen“ Vorschub geleistet. Alle Informationen können zentral gespeichert und genutzt werden – in China und anderen autoritären Systemen ist das keine Utopie mehr. Doch die Digitalisierung an sich ist weder schlecht noch gut – ihre Anwendung allein ist entscheidend.
Wenn das Hospital zum Heiligen Geist mit Unterstützung von namhaften Sponsoren erstmalig in Deutschland mittels zwei in der Schweiz entwickelten „ExerCubes“ seinen Bewohnern anbietet, ihre kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit zu fördern und zu steigern, dann geben sich bei diesem Projekt „analog“ und „digital“ versöhnlich die Hand.
Dem Avatar mit Kopf und Körper folgen
Aber der Reihe nach: Wohl fast jeder erinnert sich an die Sportstunden seiner Schulzeit, in denen es bei der Gymnastik darum ging, vom Sportlehrer demonstrierte Übungen zu verinnerlichen und möglichst gekonnt nachzuvollziehen. Soldaten fallen möglicherweise die „Six Body Exercises“ ein, die in den Morgenstunden die Wehrkraft fördern sollten. Weniger militärisch, dafür oft effizienter, geht es in Sportvereinen, Fitnessclubs oder beim Rehasport zu. Immer ist die Anforderung gleich: Aufgabe erkennen – Aufgabe umsetzen. Alles geschieht analog – eine Dokumentation der erbrachten Leistung ist nur bedingt möglich.
In der digitalen Welt eines „ExerCube“ dagegen ist es völlig anders. Der Physiotherapeut oder die Sportlehrerin turnt nicht mehr vor, sondern konfiguriert das System personenspezifisch und weist ein. Schon sehr bald ist jede und jeder mit dem System allein und Aug’ in Aug’ mit dem Avatar. Dem Avatar – einem Außerirdischen? Dies Fabelwesen ist – auch wenn es den Anschein hat – keine Erfindung des digitalen Zeitalters. Schon der französische Schriftsteller Théophile Gautier (1811–1872) veröffentlichte 1857 seinen Roman „Avatar“. Der Begriff leitet sich aus dem Sanskrit „Avatara“ ab und meint das hinabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären. Auch wenn im „ExerCube“ der Begriff „Gottheit“ etwas hoch gegriffen ist und eher Assoziationen mit der amerikanischen Fantasy-Serie auslöst – auf jeden Fall ist dieser virtuellen Kunstfigur Folge zu leisten.
Für das SeMa waren es Margit Heitmann, 80, und Uwe Brockmöller, 79, die erstmalig in ihrem Leben versuchten, den Anweisungen eines Avatars zu folgen. Versehen mit „Motion-Trackern/elektronischen Sendern“ an Hand- und Fußgelenken und persönlich vom System vermessen und entsprechend abgespeichert, trat zuerst Brockmöller dem Avatar entgegen. Die Kunstfigur „turnte“ vor – Brockmöller tat es ihr nach.
Analoge Leistung – digital erfasst
Anders als in der Gymnastikstunde längst vergangener Tage wurde nun aber jede seiner gelungenen Übungen registriert und mit Punkten versehen. „Es ist eine echte Herausforderung, dem stummen, vorturnenden Avatar so zu folgen“, resümierte der rüstige Senior, „dass die Umsetzung in der gegebenen Zeit gelingt. In den drei Minuten, die ich im ‚ExerCube‘ war, musste ich mich sehr konzentrieren!“ „Genau das ist es, was diese systemgesteuerten Übungen leisten“, so Physiotherapeut Ole Behr, der Uwe Brockmöller zur Seite stand „Es wird gleichzeitig die kognitive und die physische Leistungsfähigkeit gefördert. Und da das System die jeweiligen Ergebnisse personenbezogen speichern kann, ist es möglich und gleichzeitig anspornend, den Trainingsfortschritt zu dokumentieren und fortzuschreiben.“ Margit Heitmann hatte bereits beim Zuschauen gelernt und konnte sich über ein etwas besseres Ergebnis freuen. „Wäre ich zuerst ‚dran‘ gewesen“, so urteilte sie, „hätte ich mehr Probleme gehabt, den Anweisungen zu folgen.“ Allerdings ist für beide noch Luft nach oben – auf jeden Fall sind schon einmal Interesse und Ehrgeiz geweckt worden.
Nicht nur für Senioren
„Dieses ‚Virtual Reality Game‘ bietet für jede Altersstufe etwas. Bereits mit zwei Sportvereinen hat das Hospital zum Heiligen Geist eine Zusammenarbeit vereinbart. Geplant ist auch, diese besondere Trainingsmöglichkeit gegen Kostenbeteiligung im Stadtteil anzubieten“, freut sich Michael Kröger vom Vorstand der mit rund 800 Jahren Geschichte ältesten Senioreneinrichtung Hamburg. „Für unsere Bewohner wird die Nutzung kostenlos sein. Ganz wichtig ist mir – nicht nur die ‚Fitten‘ können hier etwas für ihre Gesundheit tun. Selbst für Rollstuhlfahrer lässt sich das System einrichten.“ Mit dem Einsatz der wissenschaftlich begleiteten Entwicklung und Nutzung der „ExerCubes“ betritt das Hospital nicht zum ersten Mal digitales Neuland. Nicht als Selbstzweck, sondern um seinen Bewohnern und Inte-ressierten aus dem Stadtteil technische Innovation zu deren praktischen Nutzen zu bieten. Denn ein fitter Kopf und ein beweglicher Körper sind in jedem Alter ein Gewinn.
Text und Bilder: F. J. Krause © SeMa
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