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Schatten über der Ostsee

Endlich wieder Sommer – glückliche alle, die ihn für ein paar Wochen am Meer verbringen können! Zum Beispiel an der Ostsee. Heute ein beliebtes Ferienziel, war sie am Ende des Zweiten Weltkriegs für viele Menschen der letzte Weg, um vor der Roten Armee zu fliehen. Ein Weg, der für Tausende tödlich endete. Heinrich Korella, ein Überlebender des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“, berichtet:

Heinrich Korella, ein introvertierter junger Mann. Ein durchreisender Flüchtling machte 1946 das Bild. Foto: privat

Freistaat Danzig

„Ich kam 1931 in Tiegenhof – dem heute polnischen Nowy Dwór Gdański – zur Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tiegenhof 1920 dem ‚Freistaat Danzig‘ zugeschlagen und vom restlichen Deutschland gemeinsam mit Danzig abgetrennt. Die deutsche Besetzung beendete diesen Sonderstatus 1939 wieder. Ich kann mich noch gut an die Danziger Gulden erinnern, die damals in Danzig galten. Mein Vater war Konditormeister – in seiner Freizeit spielte er passabel Geige. Als er 1940 starb, musste ihm meine Mutter versprechen, dass ich Geigenunterricht bekam.

Nur weg hier

Lange gab es schon keine deutschen Siegesmeldungen mehr. 1942 begann am 23. August die Schlacht um Stalingrad, die am 2. Februar 1943 endete und Hunderttausenden Soldaten auf beiden Seiten den Tod brachte. Unaufhaltsam rückte die Front näher an meine Heimatstadt. Erste Fluchtüberlegungen kursierten im Sommer 1944. Doch Gauleiter Erich Koch lehnte eine frühzeitige Evakuierung Ostpreußens ab. Nach dem Durchbruch der Roten Armee an der Ostfront fanden sich daher zu Beginn des Jahres 1945 viele Einwohner der Provinz vom übrigen Reichsgebiet abgeschnitten. Am 21. Januar 1945 ordnete Admiral Hans-Georg von Friedeburg mit der Weisung „Hannibal“ die Verlegung der 2. U-Boot-Lehrdivision, die auf der ‚Wilhelm Gustloff‘ stationiert war, nach Westen an. Spätestens dann gab es kein Halten mehr. Weit über zwei Millionen Menschen machten sich auf den Weg in den Westen Deutschlands. ‚Nur weg hier‘ war die Devise.

Hauptsache nach Westen

Mit nur wenig Gepäck schlossen sich meine Mutter und ich am 26. Januar 1945 einem Treck mit Pferdegespannen an. Doch der Weichselübergang erwies sich als Nadelöhr. Im allgemeinem Chaos entschied meine Mutter den Treck zu verlassen und durch den Schnee den Weg in die vermeintliche Sicherheit zu wagen. Sie hatte sich nämlich nach dem Tod meines Vaters mit einem Hamburger angefreundet, der als Schiffskoch auf der im Hafen von Gdingen liegenden ‚Wilhelm Gustloff‘ Dienst tat. Als Kreuzfahrtschiff für die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘ (KDF) gebaut und genutzt, war die ‚Gustloff‘ seit Kriegsbeginn wie die anderen KdF-Schiffe auch, von der Kriegsmarine als Lazarettschiff, Wohnschiff und als Truppentransporter im Einsatz. Zu Fuß machten wir uns nach Gdingen, damals Gotenhafen und heute Gdynia, auf den Weg.

Heinrich Korella 2022. Er ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen des
Untergangs der „Wilhelm Gustloff“. Foto: Krause

In Gummistiefeln an Bord

Zwei Treppen führten auf das Schiff: rechts die für Flüchtlinge – links die für die Besatzung. Schiffskoch Arthur Krohn holte uns am 30. Januar über die linke Treppe an Bord und wies uns die leerstehende Kammer des Schiffszimmermanns im Bug des Schiffes zu. Er sorgte auch für ein Minimum an Verpflegung, ohne Lebensmittelmarken war das selbst für ihn ein Problem. Warum ich Gummistiefel anhatte, weiß ich nicht mehr – auf jeden Fall stiefelte ich mit ihnen durch das total überbelegte Schiff, um es zu erkunden. Das ging gut, bis mich Flüchtlinge entdeckten und unmissverständlich aufforderten zu verschwinden. Das Schiff war inzwischen ausgelaufen und bewegte sich in Richtung Westen. Dunkelheit herrschte, und es war kalt. Zeit, so fand meine Mutter, sich in die wenigen Decken zu hüllen und zu schlafen. Wir hatten anstrengende Tage hinter uns.

Drei Einschläge

Es war 21.16 Uhr, so habe ich später erfahren, als drei Torpedos unser Schiff trafen. Abgeschossen hatte sie das sowjetischen U-Boot S-13 aus etwa 700 Metern Entfernung. Sie trafen die ‚Wilhelm Gustloff‘ am Bug, unter dem E-Deck und im Maschinenraum. ‚Wir machen die Schotten dicht‘, gellten Schreie durch die Gänge. Für uns hieß das ‚nichts wie raus, schleunigst an Deck, nur nicht unten bleiben!‘ Meine seekranke Mutter hakte sich bei mir ein, und wir kamen zu einem Rettungsboot, das als erstes ins Wasser gelassen werden sollte. An Deck herrschte Panik. Dennoch schafften wir es ganz knapp, in das Boot einzusteigen. Gefüllt mit verängstigten Menschen, kam es unmittelbar danach sicher zu Wasser. Das war nicht selbstverständlich. Andere Boote kippten um.

Totenstille

An den Ruderpinnen saßen Kroaten, die als ‚Hilfswillige‘ bei der Marine Dienst taten. Sie trieben unser Boot mit schnellen Ruderschlägen aus der unmittelbaren Nähe der sinkenden ‚Wilhelm Gustloff‘. Niemand sprach – Totenstille herrschte an Bord des bis zum Bersten gefüllten Rettungsbootes. Nur das regelmäßige Geräusch der ins Wasser tauchenden Ruderblätter war zu hören. Neben dem überfüllten Kutter trieben Menschen im Wasser, ich machte über die Bordkante unbewusst eine hinweisende Geste, als hinter mir ein schriller Schrei ‚Das Boot ist voll‘ erklang – ich zuckte zurück. Die Ostsee war ruhig – unser Boot hob und senkte sich sanft in der Dünung. Waren wir auf ihrem Kamm, sahen wir, wie die ‚Gustloff‘ sank. Wir erlebten es wie im Zeitraffer – immer ein Stück mehr schluckte die See. Nach etwas mehr als einer Stunde, gegen 22.15 Uhr, versank die ‚Gustloff‘ etwa 23 Seemeilen von der pommerschen Küste entfernt. Mehr als 9000 Menschen fanden den Tod.

Gerettet

Wir wurden später vom Torpedoboot ‚Löwe‘ übernommen. Endlich konnten wir uns aufwärmen. Doch nicht nur Lebende hatte die ‚Löwe‘ aus dem Wasser geborgen. Unter einer Plane lagen an Deck die gefrorenen Körper Ertrunkener. In Kolberg gingen wir an Land, schlugen uns nach Hamburg durch. Über Schleswig-Holstein, wo ich eine Ausbildung zum Konditor machte, kamen wir wieder in die Hansestadt. Die Schüler-Geige hatte ich in Tiegenhof zurückgelassen. Aber da mein Vater auch im Chor gesungen haben soll, bin ich 70 Jahre lang ein aktiver Chorsänger geblieben. Musik gehört bis auf den heutigen Tag zu meinem Leben. Ebenso die Fotografie. Vieles hat sich, trotz Flucht und dramatischer Rettung, gut gefügt. In Hamburg fanden wir unsere neue Heimat. Doch der Schrei ‚Das Boot ist voll‘ klingt noch heute in meinen Ohren.“
    

 

Heinrich Korella/2022 aufgezeichnet von F. J. Krause © SeMa

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