Schrift ändern:AAA

Quetschkommode auf der Roten Liste

Wer in den 90ern durch das Alstertal- oder Elbe-Einkaufszentrum schlenderte, hat sie vielleicht gehört: Die Musikanten, die sich bis 2001 Estetaler Harmonikas nannten. Damals zauberten sie den „Hamborger Veermaster“ und mehr aus der Ziehharmonika. Heute steht die Quetschkommode im Duden – und auf der Roten Liste. Jetzt verkauft Hans-Dieter Bauer, Mitgründer der Kapelle, die Instrumente. Mit Wehmut und der Einsicht: „Kaum einer spielt sie noch.“

Hans-Dieter Bauer: Maritimer Jungspund mit „Schifferklavier“.

Angefangen hat eigentlich alles mit Helmut Schmidt“, erinnert sich Hans-Dieter Bauer, der einst in Buxtehude, am Elbe-Nebenflüsschen Este, das Ziehharmonika-Ensemble aus der Taufe hob. Denn der ehemalige Hamburger Bürgermeister verfügte 1970 einen Beförderungsstopp in der Bundeswehr. Betroffen war auch Soldat Bauer. Er stieg nicht auf zum Offizier – sondern um in den Operationssaal. Er wurde im AK Harburg ausgebildet – und landete Anfang der 60 Jahre im (ehemaligen) Kreiskrankenhaus Buxtehude. Den Umzug machte die Ziehharmonika, die er von seinen Eltern geerbt hatte, mit. Einige Zeit blieb sie tonlos in der Stadt, in der die Hunde mit dem Schwanz bellen.

Doch Ende der 80ziger traf der OP-Pfleger, Jahrgang 1938, bei einem Fest in Stade auf Musikanten, die wie er Lust und Luft für die Ziehharmonika hatten. Luft ist nötig, weil der Quetschkasten gedrückt oder gezogen werden muss, damit Luft raus- oder reingelassen wird und auf Knopfdruck hohe und tiefe Töne erzeugt. Eine Ziehharmonika ist von einem Akkordeon „weit entfernt. Ein gewaltiger Unterschied“, fachsimpelt Bauer. „Ein Akkordeon hat eine schwarz-weiße Klaviatur, auf der alle Töne der Tonleitern gespielt werden können. Die Ziehharmonika hat Knöpfe, und ihr kann man Töne der jeweiligen Tonart entlocken.“ Für Fachleute: Der klangliche Unterschied ist der, dass bei einem Akkordeon chromatische Tonleitern gespielt werden können, bei der Harmonika lediglich diatonische.

Auch im Alter: Finger auf
den Knöpfen.

Ende der 80er Jahre waren sie zu dritt. Aber das Trio bekam Freundinnen und Freunde. Nach Aufrufen in der Presse versammelten sich immer mehr um den „Kapellmeister Bauer“. „Bis dahin waren wir fast nur ältere Herren, nun kamen auch jüngere, auch drei Frauen.“ Und peu à peu trauten sie sich mehr: zu Anfang hatten sie gespielt, was sie auswendig konnten. Noten waren schwarze Zeichen auf weißem Papier, mehr nicht. „Viele von uns konnte keine Note lesen“, sagt Bauer. Denn: Die Harmonikas beherrschten ihr „Orchester im Kleinen“ aus dem Effeff und konnten aus dem Kopf spielen.

Doch die Zeiten änderten sich. Die Bauer-Combo wurde professioneller. In einem Studio in Maschen wurde ein Master-Tape eingespielt. Es folgten CDs und Live-Spiel – und nicht nur bei Blütenfesten oder geselligen Nachmittagen. Funk und Fernsehen riefen – die Harmonika-Spieler kamen zu 200 Auftritten. Ein Liederbuch wurde gedruckt. 2001 verwandelten 18 der auf 30 angewachsen Harmonika-Fans ihr Instrument in Bordgepäck: Es zog sie von Buxtehude zur Steuben-Parade in die USA. Offenbar machte die weite Welt Lust auf Neues. 2002 nannten sich die Spieler um in Altländer Harmonikas – was der Spielfreude keinen Abbruch tat.

Moderne Zeiten für Ziehharmonikas – auf CD.

Doch langsam ging der Kapelle die Luft aus: Nachwuchssorgen. Immer öfter war der Weg zur Probe zu lang oder das Alter forderte einen Tribut, sodass immer mehr die Ziehharmonika aus den Händen legten. Heute sind noch drei dabei: Hans-Dieter (84) in Buxtehude, Elisabeth (90) in Neu-Wulmstorf und Wolf-Dieter, der einst der kaufmännische Kopf war und heute in Hausbruch mit 86 Jahren die Quetsche drückt. Die drei sind Zeugen einer musikalischen Zeit, in der die Ziehharmonika Artenschutz genießt: Sie steht immer öfter auf der Roten Liste – und selten „auf dem Lehrplan der Schulen“, sagt Bauer. Im Norden sieht es mit dem Akkordeon besser aus: Fast kein Shanty-Chor ohne Schifferklavier.     

 

Dr. H. Riedel © SeMa

Analyse Cookies

Diese Cookies ermöglichen eine anonyme Analyse über deine Webseiten-Nutzung bei uns auf der Seite

Details >Details ausblenden