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Praxis ohne Grenzen

Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung

Prof. Ostendorf

Die Praxis ohne Grenzen bietet kostenlose medizinische Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung. Einmal in der Woche – immer mittwochs von 13 bis 17 Uhr – gibt es eine offene Sprechstunde ohne Terminvergabe. Alle Ärzte arbeiten hier ehrenamtlich. Prof. Dr. Peter C. Ostendorf gründete die Praxis ohne Grenzen 2014. Er war 20 Jahre Chefarzt der Inneren Abteilung am Marienkrankenhaus in Hamburg. In seiner Freizeit liebt er es zu musizieren. Seit der Schulzeit spielt er Cello. Das SeMa sprach mit Prof. Ostendorf.

SeMa: Wie sind Sie auf die Idee für die Praxis ohne Grenzen gekommen?

Prof. Ostendorf: Ich war 75 Jahre alt und damals noch in der klinischen Tätigkeit in dem Präventikum des Marienkran-kenhauses so acht bis zehn Stunden und wollte ein bisschen ruhigere Zeiten haben. Zudem wollte ich auch der Gesellschaft  etwas zurückgeben, weil ich von ihr viel bekommen habe durch die Ausbildung. Zuerst die klinische Ausbildung in Tübingen als Oberarzt und dann als Chefarzt. Es waren viele Vorteile, die ich genossen habe. Dann ist mir dieses Projekt eingefallen. 2013 habe ich im Oktober die Idee gehabt und im April 2014 haben wir dann eröffnet. In drei Räumen zunächst, dann hat die Reimund C. Reich Stiftung uns den Ausbau des Basements der Seniorenanlage in Bauerberg in Hamburg-Horn finanziert. Dort hatten wir Räume für zehn Fakultäten und die Sozialberatung. Im März dieses Jahres sind wir in die Fangdieckstraße 53 gezogen, weil die Unterbringung in der Seniorenanlage in Horn wegen der Corona-Pandemie nicht mehr möglich war.

SeMa: „Praxis ohne Grenzen“ bietet gleich die Assozia-tion mit „Ärzte ohne Grenzen“. Das ist sicher so gewollt?

Prof. Ostendorf: Ja, ein bisschen, aber es gab die Praxis ohne Grenzen schon in Bad Segeberg. Ich habe mich dort erkundigt, wie die Praxis so abläuft, und wir haben uns geeinigt, dass sich das Projekt dort Praxis ohne Grenzen – Bad Segeberg nennt und ich das Hamburg anhänge. Wir sind jetzt in einem lockeren Verbund ohne großen Austausch. Wir treffen uns einmal jährlich, auch mit den anderen Praxen ohne Grenzen wie Husum, Rendsburg und Flensburg. Wir sind ansonsten völlig selbstständig. Das Gemeinsame ist die unentgeltliche Behandlung auf ehrenamtlicher Basis für die Patientinnen und Patienten.

SeMa: Die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung ist in den vergangenen fünf Jahren stark gestiegen. Laut Statistischem Bundesamt hatten im vergangenen Jahr 143.000 Menschen keine Krankenversicherung, 2015 waren es noch rund 79.000. Spüren Sie diesen Anstieg auch bei Ihrer Arbeit?

Prof. Ostendorf: Den spüren wir auch, aber diese Zahlen stimmen ja nicht. Sie sind viel zu niedrig angesetzt. Es gibt keine richtige Erhebung. In der Erhebung des Statistischen Bundesamts sind beispielsweise die Obdachlosen und Kinder nicht erfasst. Um eine realistische Zahl zu bekommen, muss man sich Folgendes klarmachen: Die Bundesnetzagentur hat 680.000 Deutsche gezählt, die keine Wohnung haben. Und 350.000 Menschen haben keinen Strom in der Wohnung. Man würde ja eher den Strom und die Wohnungsmiete bezahlen als die Krankenversicherung. Zunächst hören Menschen auf, die Beiträge für die Krankenversicherung zu zahlen, dann hören sie mit der Stromzahlung auf und zuletzt mit der Miete. In der Reihenfolge geht das. Also, die 143.000 können Sie gut mal drei nehmen.

SeMa: Es gibt doch aber die Pflicht zur Krankenversicherung?

Prof. Ostendorf: Ja, schon. Die Politiker sagen ja immer, es gibt keine Menschen ohne Krankenversicherung, weil wir die Pflicht haben, aber wenn man die Krankenkasse nicht bezahlen kann, ist man draußen.

SeMa: Das betrifft ja oft Handwerker.

Prof. Ostendorf: Ja, viele Selbstständige wie Handwerker, Architekten, Rechtsanwälte. Die waren oft privat versichert und konnten es sich irgendwann nicht mehr leisten.

SeMa: Welche Fachrichtungen sind in der Praxis vertreten?

Prof. Ostendorf: Man kann eher fragen, welche sind nicht dabei. Wir haben alle Fachrichtungen und sogar eine sehr gut eingerichtete Zahnarztpraxis. Es fehlt nur ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Krankheitsbilder dieser Ärzte bedürfen einer Langzeitbehandlung. Dafür haben wir noch keinen Kollegen gewinnen können.

SeMa: Wie ist die Altersstruktur unter den Patienten?

Prof. Ostendorf: Es gibt verschiedene Gruppen: Die Schwarzafrikaner sind eher jünger, was mit dem Status des Migranten zusammenhängt. Die zweite große Gruppe sind EU-Bürgerinnen und Bürger, meist aus Rumänien und Bulgarien, die hier keine sozialversicherungspflichtige Arbeit gefunden haben. Sie sind so um die 50 Jahre alt. Und um die 60 sind dann die Deutschen, von denen wir sprachen.

SeMa: Medizinische Behandlungen, gerade auch wenn jemand ins Krankenhaus muss, sind ja recht teuer. Wie finanziert sich die Praxis ohne Grenzen?

Prof. Ostendorf: Das ist einer der großen Posten hier, wenn wir die Operationskosten für einen Patienten übernehmen. Keine Klinik nimmt einen Patienten von uns auf, wenn ich nicht vorher den Kostenvoranschlag akzeptiert habe. Die Kosten liegen genauso hoch wie bei einem Kassenpatienten, manchmal sogar höher. Nur die Endo-Klinik hat vor Kurzem fünf Hüft- und Kniegelenks-Operationen gemacht, bei denen sie nur die Materialkosten berechnet haben. Im letzten Jahr hatten wir 6315 Patienten. Da sind immer welche dabei, die sehr schwer erkrankt sind. Gerade hatten wir einen Schwarzafrikaner in Behandlung – mit einem Rachenkarzinom, und das war ins Ohr reingewachsen und in die linke Nebenhöhle, der wurde operiert und bekommt nun Bestrahlung und Chemotherapie. Das hat insgesamt 36.000 Euro gekostet.

SeMa: Wird in der Praxis ohne Grenzen auch geimpft?

Prof. Ostendorf: Nicht bei Erwachsenen, aber die prophylaktischen Impfungen für Kinder machen wir. Das ist auch das Einzige, was uns der Staat bezahlt. Aber das war auch ein langer Streit, weil die Behörden die Namen der Kinder von uns haben wollten, und das machen wir nicht, weil hier alles anonymisiert ist.

SeMa: Wie finanziert sich die Praxis ohne Grenzen?

Prof. Ostendorf: Das steht hauptsächlich auf Füßen großzügiger Spender und Stifter. Wenn davon jemand aufhört, wie wir es gerade erleben, weil eine langjährige Vereinbarung aufhört, reißt das immer eine große Lücke. Manchmal bekommen wir auch Einzelspenden.

SeMa: Wie viele Menschen sind für die Praxis ohne Grenzen tätig?

Prof. Ostendorf: Momentan sind es 48 Ärztinnen und Ärzte, 16 Krankenschwestern, zwei Dolmetscherinnen und eine Sozialarbeiterin. Dazu kommen Medizinstudenten, die helfen, die Patientinnen und Patienten mit den nötigen coronabedingten Hygieneregeln an der Tür zu empfangen. Auch diese machen das ehrenamtlich.

SeMa: Danke für das Gespräch.     

 

Stephanie Rosbiegal © SeMa

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