Schrift ändern:AAA

Höher und anders

Der Turm von St. Nikolai – „Kirchtürme“, so Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), „sind umgekehrte Trichter, um das Gebet in den Himmel zu leiten.“ Jede europäische Stadt hat solche Gebetstrichter, die über Jahrhunderte deren Stadtbilder prägen. So auch in Hamburg – doch hier fällt ein Turm „aus dem Rahmen“.

Dr. Nele Maya Fahnenbruck. Die Botschaft des Turms von St. Nikolai auch zukünftig hörbar zu machen ist der
Historikerin ein großes Anliegen.
Foto: Förderkreis Mahnmal St. Nikolai e.V.

Neugotisch in Hamburg

Am 5. Mai 1842, dem ersten Tag des dreitägigen „Großen Brands“, fiel St. Nikolai als die erste der Hamburger Kirchen dem Feuer zum Opfer. Bereits 1844 schrieb die Kirchenbaukommission einen Wettbewerb aus, den der Architekt Gottfried Semper gewann. Dennoch wurde nicht sein, sondern der teurere Plan des drittplatzierten Londoner Architekten George Gilbert Scott umgesetzt. Die Grundsteinlegung erfolgte 1846 – der Bau des 147,3 Meter hohen Turms wurde 1874 beendet. Nach dem Fernsehturm ist der Nikolaiturm noch heute das zweithöchste Gebäude Hamburgs. Scott orientierte sich am „modernen“ neugotischen Stil. Der Bau ähnelte nicht zufällig dem Kölner Dom. Die verwendeten Materialien – gelber Backstein und Elemente aus Sandstein sowie Carrara-Marmor – bedeuteten ein Bruch mit Hamburger Bautraditionen.

Vom Gebetstrichter zur Zieleinrichtung

Ein Brite war es, der als Architekt für das ausgefallene Bauwerk in der Hamburger Innenstadt verantwortlich zeichnete. Luftwaffeneinheiten der USA und aus dem gesamten Commonwealth waren es, die bei der „Operation Gomorrha“ im Juli und August 1943 Hamburg in Schutt und Asche legten. Der weithin sichtbare Kirchturm wurde nun zur Zieleinrichtung der Flieger, die auch die Kirche zerstörten. Zehntausende Hamburger starben unter grausamen Umständen – aber auch „Feinde“, wie Flight Sergeant F. F. Innes aus Mathoura im australischen New South Wales, starben. Der 23-jährige Innes startete am 2. August um 23.55 Uhr mit einem Lancaster-Bomber in East Wretham im englischen Norfolk zusammen mit sechs Kameraden, um Hamburg zu bombardieren. Am 3. August 1943 wurde das Flugzeug kurz vor Harburg von einem Blitz getroffen. Beim Absturz gab es keine Überlebenden. Vermutlich hatten die Australier vor ihren Einsatz noch nie etwas von Hamburg gehört. Schon fast nicht mehr lesbar findet sich auf seinem Grabstein das Motto der Royal Australien Airforce. „PER ARDUA AD ASTRA – Through Struggles to the Stars“ – „Durch Schwierigkeiten zu den Sternen.“ Ein Satz voll hohlen Pathos: Für Flight Sergent F. F. Innes waren die Schwierigkeiten der Tod, und seine Sterne sind ein Grab auf Ohlsdorf. Wie viel mehr Wärme und Menschlichkeit strahlen die Worte aus, die seine Eltern auf den Stein setzen ließen: LOVED SON.

Ein Turm als Mahnmal

„Wenn die Menschen schweigen, werden die Steine schreien“, heißt es sinngemäß im Lukas-Evangelium. „Nie wieder Krieg“ ist der stumme Schrei des rußgeschwärzten Riesen an der Ludwig-Erhard-Straße. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der viele Parallelen zum Überfall Hitlers auf Polen aufweist, setzt ein Fragezeichen hinter den Schrei der Steine. Darf der gemäß Altkanzler Schröder „lupenreine Demokrat“ Vladimir Putin seine „Spezial-Operation“, seinen Krieg in der Ukraine führen, ohne dass die Ukraine sich wehrt, ohne dass alle demokratischen Länder ihr zur Seite stehen? Auch wenn das Krieg oder Kriegsunterstützung bedeutet? In den Gewölben unter St. Nikolai erinnert eine Dauerausstellung an das Grauen der „Operation Gomorrha“.  Bis zum 3. Juli stellt dort die Ausstellung „Wir hatten ein normales Leben“ die Entwicklung in der Ukraine von 2006 bis 2022 in den Fokus. Auch wenn das Fernsehen täglich den Krieg ins Wohnzimmer bringt – die gezeigten Fotos haben eine ganz andere, tiefergreifende Wirkung.

Ein Grabstein auf Ohlsdorf – Flight Sergent F. F. Innes aus Mathoura im Australischen New South Wales starb
beim Angriff auf Hamburg. Foto: Krause

Die Sache mit den Mahnmalen

Das kolossale „Völkerschlacht-Denkmal“ in Leipzig und viele andere Denkmale rühmen Helden, feiern den Sieg. Wenige nur erinnern an vernichtetes Leben, an Tod und Verbrechen. Das Mahnmal St. Nikolai stellt die Opfer in den Mittelpunkt. Opfer, die mit wachsenden Zeitabstand Teil einer historischen Statistik werden könnten. Rüttelt ihr Tod die heutige, die kommen Generationen noch auf? Darauf gilt es in Hamburg und anderenorts Antworten zu finden. Die junge Historikerin Dr. Nele Maya Fahnenbruck, die seit einigen Wochen Geschäftsführerin vom Förderkreis Mahnmal St. Nikolai e. V. ist, bringt mit ihren Jugendarbeitserfahrungen beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge alle Voraussetzungen mit, der Botschaft des Mahnmahls weiterhin eine hörbare Stimme zu verleihen.

Arbeitsplatz, Aussichtsplattform, Carillon

Neben der dauer- und der aktuellen Ausstellung bietet St. Nikolai zwei weitere Besonderheiten: ein Glockenspiel, das gleichzeitig als Carillon bespielt werden kann und – einzigartig in der Stadt – eine auch für Rollstuhlfahrer zugängliche Aussichtsplattform in 76 Meter Höhe. Dort eröffnet sich dem Besucher ein beeindruckender Panoramablick über die Hansestadt. Für die Kasse bzw. Eingangskontrolle werden immer wieder Kräfte auf 450 Euro-Basis gesucht. „Unser Team berichtet über viele interessante Begegnungen mit Besuchern aus vielen Ländern“, so Dr. Fahnenbruck „gerade mit Senioren als Mitarbeitern haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht!“ Bei Interesse bittet sie um Kontaktaufnahme per E-Mail: info@mahnmal-st-nikolai.de.

Für Musikfreunde:
Samstag, 20. August 2022, 16 Uhr Carillon-Konzert mit Gerald Martindale
Alle Veranstaltungen unter: www.mahnmal-st-nikolai.de

    
F. J. Krause © SeMa

Analyse Cookies

Diese Cookies ermöglichen eine anonyme Analyse über deine Webseiten-Nutzung bei uns auf der Seite

Details >Details ausblenden