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Die Not mit der Notdurft

Die Versorgung mit öffentlichen Toiletten in Hamburg ist mangelhaft!

Benutzungshinweise an
der Toilette auf dem
Marie-Jonas-Platz in
Eppendorf.
Foto: stahlpress Medienbüro

Weil seine schwerbehinderte 86-jährige Frau dringend auf Toilette musste, hatte der 85-jährige Mann in einer Bäckerei in Harburg im Sommer 2021 den Zettel zur Corona-Kontaktnachverfolgung nicht komplett ausgefüllt. Die missliche Lage oder dass sie Stammgäste waren und ihre Daten bereits mehrfach vorlagen, interessierte einen Mitarbeiter des Ordnungsamtes nicht: Er verhängte ein Bußgeld von 178,50 Euro pro Person.
Vor Gericht wurde die Strafe im Mai 2022 zwar aufgehoben – aber der Ärger wäre vielleicht gar nicht entstanden, wenn Hamburg mit Bedürfnisanstalten besser bestückt wäre. Touristen spüren das oft deutlicher als Einheimische, die mit den Lücken der Infrastruktur vertraut sind. Hinweisschilder fehlen. Im Ranking eines Reise-portals von 2021 musste die Hansestadt München, Dresden, Heidelberg und Berlin den Vortritt lassen.

„Der Nutzungsdruck auf öffentliche Toiletten ist während der Corona-Pandemie erheblich gestiegen“, erklärte der Senat im Februar 2021, als er eine mit 8,52 Millionen Euro ausgestattete „Toiletten-Offensive“ vorstellte. Hätte das Harburger Ehepaar in der Smart- phone-App der Stadtreinigung nach dem nächsten WC gesucht, wäre ihm 700 Meter von seinem Standort entfernt eines am Herbert-Wehner-Platz angezeigt worden. Das machte im September 2022 Schlagzeilen, weil die Benutzung nur mit Kreditkarte möglich war. Die Zugangsbeschränkung wurde mit „Vandalismusschäden an den Münzeinwürfen und Diebstählen der Geldkassetten“ begründet.

Inzwischen können diese und zwei weitere „Automatik-Toiletten“ in Harburg, auf dem Rathausplatz und am Außenmühlendamm, kostenlos genutzt werden. Bis dahin hätte das Ehepaar immerhin noch 900 Meter beziehungsweise fast zwei Kilometer zurücklegen müssen. Die 700 Meter entfernte Anlage auf dem Sand ist nur von 8 bis 14 Uhr geöffnet. (Die App der Stadtreinigung ist im Übrigen verbesserungswürdig. Anzeigen wie „geschlossen bis Ende November 04.01.2020!“ sind bei einer Anfrage im Januar 2023 kaum hilfreich. Auf Toiletten in Bahnhöfen wird teilweise nicht hingewiesen.)

Das Café am Eimsbütteler Park wurde 1904 als öffentlicher Abort erbaut.
Foto: stahlpress Medienbüro

Über die natürlichen Ausscheidungen wurde die längste Zeit gar nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Der im Jahr 2000 erschienene „Stadtführer für Notfälle“, der die damals 150 stillen Örtchen vorstellte, ist eine Rarität. Über die einschlägigen Vorkehrungen in der Vergangenheit ist kaum etwas überliefert. Inzwischen jedoch wird in der Fernsehwerbung ganz offen über Blasenschwäche geredet. Und im November 2020 brachte die CDU das heikle Thema mit einer Kleinen Anfrage an den Senat aufs Tapet: „Nicht vorhandene, sanierungsbedürftige oder nicht barrierefreie Toilettenanlagen verringern die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum.“ Seither sprechen auch die Medien immer wieder vom „Notstand mit der Notdurft“.

Noch 2009 verspottete die Presse Alexander Pinto als „Agent 00“, der den „Lokus in den Fokus rückt“. Der Soziologe hatte eine Ausstellung in der HafenCity organisiert und kritisiert: „Öffentliche Toiletten sind bisher kein Thema für Stadtplaner und Architekten – und das ist angesichts des demografischen Wandels ein Problem.“ Die Anlagen werden allerdings wie die Dixi-Klos der Baustellen einfach dort abgestellt, wo gerade Platz ist.

Der „Toilettenführer“ auf der offiziellen Website hamburg.de weist 173 Adressen aus. 2015 hatte die Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft (BUKEA) noch 215 Anlagen erfasst. Die Verteilung von WCs erscheint willkürlich. Tatsächlich herrschte die längste Zeit Wildwuchs zwischen Bezirken, Behörden, Landesbetrieben und privaten Betrieben. Endlich befand die BUKEA, die Lage sei so „dramatisch schlecht geworden“, dass Einrichtung und Unterhalt zentralisiert und zum 1. Januar 2017 der Stadtreinigung übertragen wurden.

Die Toiletten in einer ehemaligen Bedürfnisanstalt, dem heutigen Eiscafé „Little Amsterdam“ an der Klosterallee. Foto: stahlpress Medienbüro

Wo ohnehin niemand zu Fuß unterwegs ist, besteht freilich weniger Bedarf als in Einkaufsmeilen wie der Osterstraße, für die seit vielen Jahren ein WC gefordert wird. „Einkaufen, ja – Geschäft machen, nein?“ CDU und Linke in der Bezirksversammlung empörten sich im Dezember 2022, weil die BUKEA sich erneut gegen ein WC aussprach: Angeblich fehle dafür ein geeigneter Ort.
Die Ignoranz der Stadtplaner hat Tradition. 1978 wurde in einer Zeitschrift vermerkt, dass bei der Neugestaltung eines Straßenzuges die „Wiederherrichtung der Bedürfnisanstalt am Eppendorfer Baum vergessen wurde.“ Die Besucher des viel gerühmten Isemarkts, der dort beginnt, müssen weiterhin ihre Bedürfnisse unterdrücken – oder sie, sofern sie es wissen, einige Querstraßen weiter befriedigen.

Öffentliche Klos waren jedoch schon einmal Teil der Stadtplanung, in der Amtszeit von Fritz Schumacher als Oberbaudirektor von 1909 bis 1933. Die Gebäude dienten als Toiletten und als Wartehäuschen für die Straßenbahn und Zeitungskiosk. In den noch erhaltenen befinden sich inzwischen Cafés. Manche – wie das von Schumacher selbst entworfene „Café Cloudette“ am Rand des Stadtparks – werden nach wie vor als Abtritte für Passanten ausgewiesen.

Billig ist das Geschäft nicht. 2021 kassierte die Stadtreinigung von den Nutzern 336.000 Euro und nahm 302.000 Euro durch Miete und Pacht ein. Zugleich gab die Stadt 2,5 Millionen Euro für Bau und Unterhalt aus. 250.000 Euro kostete das Klohäuschen am Bahnhof Altona. Wie wenig die Versorgung mit WCs eine Selbstverständlichkeit ist, demonstrierten die Verantwortlichen, indem sie die Einweihung im Januar 2022 geradezu zelebrierten. Außer dem Geschäftsführer der Stadtreinigung, der Vorsitzenden der Bezirksversammlung Altona und der Bezirksamtsleiterin erschienen elf Vertreter der Medien, und auch der Finanzsenator ließ es sich nicht nehmen, eine Stellungnahme abzugeben.

In der von Gustav Oelsner entworfenen Bedürfnisanstalt von 1928 am Hohenzollernring wird seit 2008 Kunst ausgestellt.
Foto: stahlpress Medienbüro

„Wildpinkler“ hatten das Areal um den Bahnhof Altona in Verruf gebracht. In der Rosenhofstraße im Schanzenviertel wehren sich die Anwohner mit Flutlichtstrahlern, die durch Bewegungsmelder aktiviert werden, sobald sich jemand in einen Vorgarten oder Hauseingang zurückzieht, um ein kleines oder auch großes Geschäft zu verrichten. Graffiti belehren: „Wenn du an die Wände Pee machst, ist es noch kein Streetart.“ Um der Verwahrlosung zu entgegnen, wurde auch am S-Bahnhof Holstenstraße ein WC installiert, das im Januar 2023 zum zweiten Mal mit Zement unbrauchbar gemacht worden ist.

„Gender-Zoff“ verschaffte dem WC am Alsteranleger Alte Rabenstraße im Juli 2021 überregionale Aufmerksamkeit. Nach dem 460.000 Euro teuren Umbau war eine Unisex-Toilette entstanden, die nicht mehr zwischen Mann, Frau oder Divers unterschied, sondern nur zwischen Sitzen und Stehen. Die Linke schlug Alarm und forderte „geschützte WC-Bereiche für Frauen“. Das erste Unisex-WC gab es bereits 2016 in Hamburg – ohne dass jemand „Diskriminierung“ gerufen hätte.

Aborte waren stets auch Schauplätze des als abseitig Angesehenen. Noch bis in die 1980er Jahre wurden Pissoirs, in denen sich Homosexuelle trafen, von der Polizei durch Einwegspiegel überwacht. Nachdem die Toilette am Haupteingang des Friedhofs Ohlsdorf Ende der 1990er zum Treffpunkt für Drogenabhängige geworden war, wurde Schwarzlicht installiert, wodurch die Adern nicht mehr sichtbar waren, um die Spritze anzusetzen.         

 

Volker Stahl © SeMa

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