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Celle bietet mehr als rohe Rouladen

Fachwerk, Bienen, Leidenschaft

Heute bleibt die Küche kalt ... die rohe Roulade in Celle meint das wörtlich.
Foto: Krause

Es war im Jahr 1955, von McDonalds, Burger King und Co. war im Nachkriegsdeutschland noch nichts zu hören, da legte Friedrich Jahn in München mit seinem ersten Schnellrestaurant den Grundstein für die Restaurantkette „Wienerwald“, die nach seinen Angaben in Spitzenzeiten täglich 700 000 Grillhähnchen verkaufte. Nach mehreren Pleiten und Skandalen soll im Juli in  Torfhaus im Harz erneut und deutschlandweit einmalig ein Restaurant dieses Namens eröffnen. Selbst wer kein Händl-Freund war, kannte den seinerzeit in aller Munde kursierenden Werbeslogan der Kette: „Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald.“ Bei der kulinarischen Spezialität Celles – der rohen Roulade – bleibt die Küche nicht nur im übertragenen Sinn kalt. Ob das allein ein Grund ist, sich in die alte Herzogsstadt an der Aller aufzumachen, können Freunde rustikaler Genüsse in gleich mehreren Restaurants dort herausfinden. Celle liegt dank des 49-Euro-Tickets oder des Niedersachsen-Tickets praktisch vor Hamburgs Haustür.

Caroline Mathilde und Struensee spielen Schach, während König Christian VII. den Papagei mit seinem Degen neckt (Sammlung Hirschsprung).
Quelle: Wikipedia

Schwung durch die getauschte Braut

Fast drei Jahrhunderte war Celle ständige Residenz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg und Regierungssitz des bedeutendsten welfischen Fürstentums. Aber erst die Frau des letzten dort residierenden Herzogs, die Hugenottin Eléonore d’Olbreuse, brachte kulturellen Glanz in die Stadt. Dabei war ihr der Weg nach Celle nicht an der Wiege gesungen worden. Geboren wurde sie 1639 in Val-du-Mignon in Frankreich. Ihre Familie war angesehen aber arm. Als Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig sie in Kassel kennenlernte, war es um ihn geschehen. Dumm nur, dass er bereits mit Sophie von der Pfalz verlobt war. Um für Eléonore frei zu sein, reichte er seine Verlobte gegen Erbverzicht an seinen jüngeren Bruder Ernst August weiter und lebte fortan mit der schönen Französin zusammen. Erst nachdem Eléonore durch einen kaiserlichen Gnadenakt zur Gräfin von Harburg und Wilhelmsburg erhoben worden war, konnte das Paar nach rund 20 Jahren Zusammenlebens und der Geburt des einzigen Kindes Sophie Dorothea heiraten. Sie führten eine nahezu bürgerliche, sehr glückliche Ehe. Eléonore brachte französischen Esprit nach Norddeutschland und befruchtete das Hof- und Stadtleben in Celle. Das Schlosstheater und die reformierte Gemeinde gehen auf sie zurück. So glücklich die Eltern lebten, so unglücklich verbrachte ihre Tochter die größte Zeit ihres Lebens. Sie wurde gegen ihren Willen aus politischen Gründen mit ihrem Cousin, dem ältesten Sohn des Herzogs und späteren Kurfürsten Ernst August von Braunschweig-Lüneburg und dessen Frau Prinzessin Sophie von der Pfalz, der früheren Verlobten ihres Vaters, verheiratet.

Im Mittelpunkt der Stadt –
das historische Schloss.
Foto: Krause

Ein Graf verschwindet spurlos

Sophie hatte den „Tausch“ nie verkraftet und betrachtete ihre Schwiegertochter als einen nicht ebenbürtigen „Bastard“ oder als „Mausdreck im Pfeffer“. Trotzdem schien die nur aus politischer Raison geschlossene Ehe anfangs glücklich zu verlaufen. Doch nach der Geburt zweier Kinder bevorzugte Kurprinz Georg Ludwig seine Mätresse Gräfin Melusine von der Schulenburg. Für Sophie Dorothea begannen triste Tage am Hof zu Hannover. Das änderte sich, als Philipp Christoph Graf von Königsmarck Anfang 1688 nach Hannover kam. Königsmarck war nicht irgendein Offizier. Seit seinen Kindertagen, die er als Page am Hof von Celle verbrachte, war er mit der ein Jahr jüngeren Sophie Dorothea befreundet. Er diente als Oberst der Leibgarde des Kurfürsten und gehörte damit zum engsten Kreis der Hofhaltung. Vermutlich seit März 1692 begannen der Graf und Sophie Dorothea eine sexuelle Beziehung. Im Sommer 1694 planten die beiden Liebenden die Flucht aus Hannover, die entweder nach Wolfenbüttel oder nach Kursachsen führen sollte. Denn Königsmarck hatte dort nicht nur eine Offiziersstelle, sondern war auch der Bruder von Maria Aurora, Gräfin von Königsmarck, der Mätresse Augusts des Starken und späteren Pröpstin des Stiftes Quedlinburg. Die Fluchtpläne wurden verraten. Am 2. Juli 1694 verschwand Königsmarck im hannoverschen Lei- neschloss und wurde vermutlich am gleichen Tag ermordet. Offiziell ist er immer noch verschollen. Das Verschwinden des Grafen wurde zur Staatsaffäre, die nicht nur im europäischen Hochadel, sondern auch bei Diplomaten und in der breiten Bevölkerung weite Kreise zog. Die Prinzessin wurde schuldhaft geschieden und auf Schloss Ahlden – jenseits aller Kultur – bis zu ihrem Lebensende 32 Jahre lang inhaftiert. Selbst die Bestattung an der Seite ihrer Eltern wollte der geschiedene Ehemann ihr verwehren. Die Lebensgeschichte Sophie Dorotheas wurde von Arno Schmidt in seinem Roman „Das steinerne Herz“ verarbeitet.

In der Fürstengruft liegen zwei unglücklich liebende Frauen – und vom Turm kann man die „NORDSEE“ sehen. Foto: Krause

Noch ein Graf

Ein ähnliches Schicksal wie Sophie Dorothea widerfuhr ihrer Urenkelin, der dänischen Königin Caroline Mathilde (1751–1775). Sie verbrachte ihre letzten drei Lebensjahre im Celler Schloss und ließ damit wieder königlichen Glanz in die einstige Residenzstadt einziehen. Bereits mit 15 Jahren wurde die Schwester des englischen Königs Georg III. mit dem psychisch auffälligen König Christian VII. von Dänemark verheiratet. Dessen Vertrauter und späterer Leibarzt, zuvor Armen- arzt in Altona, Johann Friedrich Struensee, brachte es nicht nur in den Grafenstand und zum faktischen Regierungschefs Dänemarks – er gewann auch das Herz der jungen Königin. Mit einer königlichen Generalvollmacht ausgestattet, versuchte er seit September 1770, Regierung und Gesellschaft im Sinne der Aufklärung umzuwandeln. So wurde der dänische Gesamtstaat zum fortschrittlichsten Staat seiner Zeit. Aber Struensee machte sich durch seine rigorose Spar- und Personalpolitik schnell Feinde am Hof. Bereits 1772 wurde er gestürzt und hingerichtet. Ein Teil seiner Reformen, wie die Pressefreiheit, blieb jedoch bestehen. Sein Liebesverhältnis zur Königin Caroline Mathilde war zur damaligen Zeit ein Skandal. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Struensee der Vater der Prinzessin Louise Auguste von Dänemark und damit Vorfahr von Auguste Viktoria, der letzten deutschen Kaiserin. Die soll den wahrscheinlichen Bruch in ihrem Stammbaum einmal mit dem Satz „Lieber ein gesunder Arzt als ein geisteskranker König in der Familie“ kommentiert haben. Von Caroline Mathilde ist der Satz überliefert „Wenn eine Frau einen Mann wirklich liebt – so sollte sie ihm überall hin folgen und sei es in die Hölle!“ Nach der Hinrichtung ihres Geliebten in Kopenhagen führte ihr Weg aller- dings nicht zur öffentlichen Hinrichtung oder in die Hölle. Auf Intervention ihres Bruders, des Königs von England, wurde sie auch nicht in Dänemark eingekerkert. Getrennt von ihren Kindern, durfte sie nach Celle ausreisen und wurde dort von den Bürgern begeistert begrüßt. Ihr früher Tod – vermutlich an Scharlach – löste tiefe Trauer aus. In der Gruft der Stadtkirche sind die beiden tragischen Frauengestalten im Tode vereint. Etliche Bücher und Filme beziehen sich auf Leben und Tod der Liebenden.

Celles Innenstadt.
Foto: Krause

Als wäre die Zeit stehengeblieben

Celles Altstadt zählt zu den dichtesten Fachwerkensembles der Welt. Dass dem so ist, liegt mit daran, dass nach Caroline Mathildes Tod kein gekröntes Haupt mehr in Celle residierte. Weil es an Geld mangelte, fiel die Stadt fast in einen Dornröschenschlaf. Die überwiegend zwischen den Jahren 1500 bis 1800 gebauten, heute unter Denkmalschutz stehenden rund 500 teils prächtig geschmückten Zeugen dieser Zeit blieben erhalten. Rund 26 Fachwerkhäuser pro Hektar zählt man heute in der Celler Altstadt. Es lohnt sich, die Texte und Symbole in den Balken zu studieren. Die Lebensge- schichte der unglücklichen Königin wird in einer Dauerausstellung im Schloss vorgestellt. Dort befindet sich auch das von ihrer Urgroßmutter initiierte Schlosstheater. Hier spielten am Anfang ihrer Karriere viele später bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler. Sogar einen handfesten Theaterskandal hat das Schlosstheater zu bieten: Als es 2008 um die Neugestaltung des in rotem Samt gehaltenen neobarocken Theatersaals ging, flogen zwischen der damaligen Intendantin und dem Trägerverein die Fetzen. Die Intendantin verlor ihren Job, und das Theater im Schloss bekam einen Saal – nüchternen wie ein modernes Kino. Dabei ist die Stadt ansonsten durchaus traditionsbewusst. Wer mit der Bahn nach Celle reist und mit dem öffentlichen Nahverkehr in die nahe Innenstadt fahren möchte, kann das mit der Celler Straßenbahn tun. Nur nicht wundern – denn seit dem 2. Juni 1956 gibt es keine Straßenbahnen mehr in Celle. Nur der Name des Busbetriebs „Celler Straßenbahn“ erinnert heute noch an die Zeit, als deren Gründer, der Keks- und Zwieback-Produzent Harry Trüller als einziger Fahrgast „während der Fahrt mit der Straßenbahn auf dem Tritt stehen durfte und nicht vom Schaffner von dort verwiesen wurde“.

Wochenmarkt in Celle. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt. Nur nicht Celler Dickstiel. Foto: Krause

Was es gibt und was es nicht gibt

Beim Institut für Bienenkunde kann man nicht nur „Celler Carnica-Königinnen“ kaufen, sondern alles rund um die Bienen erfahren. In Celle gibt es das wohl älteste denkmalgeschützte Klo Deutschlands. Aber selbst für Geld und gute Worte darf man es nicht benutzen. Die Hengste des Niedersächsischen Landgestüts Celle sorgen zuverlässig für Nachwuchs. Den „Celler Dickstiel“ sucht man vergebens auf dem Celler Wochenmarkt. Diese alte Apfelsorte wurde noch 2002 Streuobstsorte des Jahres in Norddeutschland. Seinen Beinamen „Farbenschachtel“ bekam der Apfel aufgrund der Vielzahl an Farbschattierungen, die seine Schale annehmen kann. „Den kauft hier keiner“, war auf Nachfrage auf dem Markt zu hören. Schade, denn geschmeckt hat er. Tröstlich dagegen: Huth im Zentrum Celles gibt es immer noch, und ist ein echter Geheimtipp. Denn seit 1851 ist am Großen Plan Nr. 7 die Firma Friedrich Huth Nachfolger ansässig. Sie bietet selbst gebrannten Kaffee, Heidehonig sowie im weitesten Sinn hochwertige Feinkost und Getränke an. In einem Ambiente, das ansonsten nur noch im Museum zu bewundern ist. Und spätestens dann, wenn man nach dem Bezahlen das Wechselgeld aus der Mulde des schwarzen Kunststoff-Wechselgeldtellers klaubt, ist man sicher: Celle lohnt sich.         

 

F. J. Krause © SeMa

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