Altwerden als neuer Lebensabschnitt
Eine 90-Jährige, die weiß, wovon sie spricht: Medizinerin und ehemalige Schauspielerin Marianne Koch hat im vergangenen Jahr ihren 90. Geburtstag gefeiert. Und sie hat ein neues Buch geschrieben. Der Titel: „Alt werde ich später“. Wann sie selbst vorhat, „alt“ zu werden, hat sie uns zwar nicht verraten, aber ein paar andere spannende Fragen beantwortet.
SeMa: Im August 2021 sind Sie 90 Jahre alt geworden. Gerade haben Sie das Buch „Alt werde ich später“ geschrieben und veröffentlicht. Was bedeutet „Altwerden“ für Sie?
Marianne Koch: Schwer zu sagen. Es bedeutet jedenfalls nicht Stillstand, Ende, nur noch Erinnerung und null Zukunft. Es bedeutet eher „neuer Lebensabschnitt“.
Wann beginnt für Sie das „Altwerden“? Für manche ist der 30. Geburtstag ja schon der Anfang vom Ende ...
Richtig. In meinen Augen hat es vor allem etwas mit geistiger Beweglichkeit zu tun. Wer, denken Sie, wirkt jugendlicher: Der 50-Jährige, der glaubt, er habe für sein Leben genug gelernt und der seine einmal gefassten Meinungen bis ins Grab für unverrückbar hält – oder der 70-Jährige, der neugierig geblieben ist und dem es Spaß macht, sich mit den Ansichten seiner Enkel auseinanderzusetzen? Leicht zu beantworten.
Sicher ist Ihnen auch schon dieses „noch immer“ untergekommen. Zum Beispiel: „Was – Sie sind doch schon 70 und gehen noch immer täglich in Ihr Büro?“ Oder: „Ach – Sie kümmern sich noch immer um Ihren Garten?“ Dieses noch immer impliziert, man sei eigentlich zu alt für das, was man tut. Wie finden Sie das? Wie reagieren Sie darauf?
Das „Noch-immer-Syndrom“ hat ein amerikanischer Sozialwissenschaftler zuerst beschrieben. Er hält es für eine sprachliche Falle, in die wir oft geraten, wenn wir es mit Älteren zu tun haben, die völlig kompetent und erfolgreich Dinge tun, die man ihnen zu Unrecht eben nicht mehr zutraut. Ich habe diese Situation eigentlich nie erlebt, aber ich denke, man kann darauf nur mit einem Lächeln reagieren oder triumphierend sagen: Ha – in die Falle getappt!
Kapitel sechs Ihres Buches widmen Sie dem Thema „Lebenslanges Lernen“. Welche Rolle spielt es beim Thema „Altern“ – und warum?
Wir besitzen ungefähr 100 Milliarden Hirnzellen, die von Kindheit an mit Programmen wie Laufen, Sprechen, aber auch mit Wissen, mit Erfahrungen, Erlebnissen, mit Gefühlen und Erinnerungen gefüllt wurden. Dabei spielen die zig Millionen Verbindungen zwischen den Zellen eine große Rolle, weil sie uns das Denken und unser Gedächtnis ermöglichen. Wenn das Gehirn älter wird, döst es gerne nur so vor sich hin. Aus diesem Zustand können wir die Zellen jederzeit wachrütteln, indem wir sie zwingen, Neues zu lernen, neue Informationen zu verarbeiten und so neue Kommunikationswege aufzubauen. Neues zu lernen heißt also nichts anderes, als die vorhandenen Verbindungen im Dickicht der Nervenzellen zu erhalten und zusätzlich möglichst viele neue Kontakte zwischen den Zellen zu knüpfen.
„Lernen“ wird oft mit Schule und Universität (und möglicherweise „Mühe“) verbunden. Welches Lernen meinen Sie?
Alles, was interessiert und Spaß macht: Eine neue Sprache, ein Kurs in der Volkshochschule (wo die tollsten Themen angeboten werden), Gedichte auswendig lernen (macht ein Freund, ein Hirnforscher, seit seinem 50. Geburtstag), sich für Klimaforschung interessieren, ein Computerkurs für Senioren – es gibt unzählige Möglichkeiten.
Viele Menschen warten auf die Rente, damit sie sich endlich von ihrem anstrengenden Leben erholen können ...
Das sei ihnen auch von Herzen gegönnt. Aber die Erfahrung zeigt, dass man nach ein paar Monaten zwischen Balkon und Sofa und Katzestreicheln wieder Tatendrang verspürt – und unsere verlängerte Lebenserwartung bietet ja oft die Möglichkeit für einen interessanten neuen Lebensabschnitt.
Ein Bekannter sagt immer: Für die Jugend sind Träume und Ziele ein Lebenselixier, für Ältere sind es die Erinnerungen … würden Sie dem zustimmen?
Nicht ganz. Denn durch eben diese längere Lebenserwartung, die inzwischen bewiesen ist, haben wir oft die Möglichkeit, unsere Träume und Ziele nach der Zeit des Berufs und der Alltagsanforderungen doch noch auf irgendeine Art zu verwirklichen. Eine Freundin will sich jetzt mit griechisch-hellenistischer Geschichte beschäftigen; ein Bekannter hat mit 70 Jahren angefangen zu malen.
In Ihrem aktuellen Buch geht es darum, wie es gelingt, geistig jung, gesund und voller Elan zu bleiben. Sie nennen das „erfolgreich altern“. Was gehört für Sie unbedingt – außer dem Lernen – noch dazu?
Drei weitere Dinge: gesundes, vitaminreiches Essen unter weitgehendem Verzicht von Industrienahrung. Also: frische Zutaten wie Gemüse, Obst, Salate, Vollkornprodukte, Joghurt, Käse und nicht zu viel Fleisch. – Viel, wirklich viel regelmäßige körperliche Aktivität, sei es durch Sport oder wenigstens durch tägliche Spaziergänge – und, ganz wichtig, viele soziale Verbindungen zu anderen Menschen – als Mittel gegen die schlimmste aller Alterskrankheiten: die Einsamkeit.
Vielen Dank – wir danken für das Gespräch ...
... darf ich dieses Interview mit meinem Lieblingszitat beschließen?
Aber sicher doch!
Bel Kaufman, eine 92-jährige New Yorkerin, wurde gefragt, wieso sie in diesem Alter so fit und jugendlich wirke. Sie antwortete: ‚Ich bin zu beschäftigt, um alt zu werden. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich mich hinsetzen und alt werden. Aber jetzt habe ich zu viel zu tun ...‘
Corinna Chateaubourg © SeMa
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