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Mein Freund, der Baum

Beim Waldbaden eintauchen in die Atmosphäre des Waldes

Es war Liebe auf den ersten Blick. Während ich mich noch unschlüssig umschaute, steuerte meine Freundin Edith schon zielstrebig auf eine Eiche zu. Als sei es die normalste Sache der Welt, umschlang sie ihren mächtigen Stamm, schloss mit einem tiefen Aufseufzen die Augen und lehnte ihre Wange vertrauensvoll an seine borkige Rinde.

Nach der Lektüre des Buches „Der Biophilia-Effekt. Heilung aus dem Wald“ hatte ich meine Freundin schon vor Jahren dazu überredet, nicht mehr nur plaudernd durch den Wald zu flanieren, sondern achtsam innezuhalten, in die Waldatmosphäre einzutauchen und als Krönung des Events einen Baum zu umarmen. So sollten wir das vom Biologen und Pflanzenwissenschaftler  Clemens G. Arvay beschriebene heilende Band zwischen Mensch und Natur nutzen, um unser Immunsystem zu stärken, Stress abzubauen und unsere Widerstandskräfte zu mobilisieren.

Was vor einigen Jahren Spaziergänger noch zum Staunen brachte, ist inzwischen als Waldbaden oder Waldluftbaden in Mode gekommen. Als ‚Shinrin Yoku‘ hat der bewusste und achtsame Aufenthalt im Wald seinen Ursprung in Japan. Shinrin Yoku, was frei übersetzt das Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes bedeutet, sollte gestresste Japaner in den 1980er Jahren zur Entspannung in die Wälder locken.

Dass ein Aufenthalt im Wald der Stimmung guttut, dürfte jeder Waldspaziergänger bestätigen. Doch es sind nicht nur die Schönheit der Natur und die Ruhe des Waldes, die gestresste Menschen entspannen lassen. Wissenschaftler haben im Wald die Wirkmechanismen bioaktiver Prozesse ergründet. Um sich vor Pilzen, Bakterien und Angreifern zu schützen, produzieren Bäume und Pflanzen organische Verbindungen, die sogenannten Phytonzide. Das Einatmen dieser antibiotisch wirkenden Substanzen senkt unseren Blutdruck und verringert das Stresshormon Cortisol. Es wird sogar ein positiver Einfluss auf unsere natürlichen Krebskillerzellen und unser Immunsystem diskutiert. In Japan ist Shinrin Yoku als Therapie längst anerkannt und kann per Rezept verordnet werden.
In der Tradition von Hildegard von Bingen, die schon im zwölften Jahrhundert die Heilkraft der Pflanzen beschwor, und der Naturheillehre Sebastian Kneipps wird der Wald auch bei uns als ‚grüne Apotheke‘ wiederentdeckt. So gilt der Heringsdorfer Küstenwald auf Usedom als erster Heilwald Europas. In München gehört die Weiterbildung zum zertifizierten Wald-Gesundheitstrainer zum universitären Angebot.
Über das Waldbaden sind inzwischen zahlreiche Ratgeber erschienen. Doch man muss keine Lehrbücher studieren, um das Waldbaden zu erlernen. Voraussetzung ist einzig die Bereitschaft, dem Wald aufmerksam und achtsam zu begegnen und ihn und seine Atmosphäre mit allen Sinnen zu erleben. Damit der Wald seine heilsame Wirkung entfalten kann, sollte man innehalten und sich selbst entschleunigen.

Vera Vorreiter, 60, hat im Waldluftbaden ihre Erfahrungen als Lehrerin für Yoga und Meditation mit ihrer Liebe zum Wald und zur Natur verbunden. Seit 2018 führt die zertifizierte Kursleiterin kleine Gruppen regelmäßig in den Wald. „Waldbaden muss man nicht lernen“, so Vera Vorreiter, „doch viele von uns haben das Entspannen verlernt.“ So sieht sie ihre Kurse als eine Art Renaturierung. Durch sanfte Leitung, passende Übungen und meditative Momente hilft sie urbanen Menschen, von außen nach innen zu kommen, mit allen Sinnen wahrzunehmen und die Freude an der Natur wieder hervorzuholen. Dabei ist es ihr wichtig, dass die Teilnehmer ihren eigenen Zugang zum Wald finden. Das kann das Umarmen eines Baumes, aber auch das Barfußlaufen, das Ausstrecken auf dem Waldboden oder die meditative Einkehr sein.

Für Menschen, die das Waldbaden für sich entdecken möchten, hat die ‚Waldluftbademeisterin‘ einen ganz einfachen Einsteigertipp: „Alles langsamer!“ So sollte man zu Beginn eher langweilige, bequeme Routen auswählen, damit der Weg nicht anstrengt. „Stehen bleiben, den Blick schweifen lassen, die Ruhe genießen, umherschauen, schnuppern und gerne auch mit den Händen oder barfuß den Wald erfühlen“, so Vorreiter.
Auch ich hatte bei meinem ersten Waldbad endlich meinen Baum gefunden. Seine Borke duftete würzig, harzig und leicht modrig. Mit einem Gefühl tiefer Ruhe löste ich nach einer gefühlten Ewigkeit meine Umarmung. Bäume können untereinander kommunizieren, hatte ich gelernt. „Tschüss, Baum und danke“, flüsterte ich und tätschelte seinen borkigen Stamm, Ein Lüftchen streifte durch seine Krone. Für mich war es so, als rauschten seine Blätter zum Abschied im Wind.     

© SeMa

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